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Esfahan ist, so sagt man, die sehenswerteste Stadt im Iran, die Stadt, die man auf keinen Fall verpassen darf. Wenn man nicht in Esfahan war, dann war man auch nicht im Iran. Das hatte mir auch Nils versichert. Esfahan ist leicht von Tehran aus zu erreichen und liegt etwa sechs Stunden mit dem Bus entfernt.

Jetzt, nach fast zwei Monaten, stellt sich bei mir eine Art Reisemuedigkeit ein. Eigentlich sollte ich noch nach Yazd fahren, aber Yazd liegt noch weiter suedlich als Esfahan, und meine Reise geht nicht nach Sueden, sondern nach Westen, nach Istanbul, und dann schliesslich nach Berlin. Vor allem deshalb habe ich ueberhaupt keine Lust, nach Yazd zu fahren, zumal dies eine weitere anstrengende Busfahrt bedeuten wuerde. So gesehen bin ich froh, dass ich ein Ziel habe. Mich zieht es nach Westen.

In dem raubkopierten "Lonely Planet Iran"-Reisefuehrer ist das "Amir Kabir"-Gasthaus als der Ort in Esfahan beschrieben, an dem man garantiert auf Backpacker stossen wuerde, und genau danach ist mir jetzt der Sinn. Die wenigen Backpacker im Iran sind ohnehin nicht von der anstrengenden Variante, die man auf Schritt und Tritt in Thailand trifft, sondern zumeist interessante Zeitgenossen. In der Lobby des Gasthauses klebt ein Aufkleber mit der Aufschrift "Universitaetsstadt Goettingen", und ich esse mit Andreas, einem Schweizer, in einem benachbarten Restaurant zu abend. Er ist vor einigen Jahren im Jemen unterwegs gewesen, und seine Erzaehlungen von dort beschreiben eine faszinierende und mittelalterliche, wenngleich auch etwas unheimliche arabische Welt.

Spaeter gehen wir in ein Teehaus auf dem Dach eines der Haeuser am Emam-Khomeini-Platz. Dieser Platz ist der vielleicht schoenste Platz im Orient, rechteckig und ganz mit Torboegen umgeben, in denen sich Geschaefte befinden. Am Suedende befindet sich eine sagenhaft schoene Moschee, die Emam-Moschee, und dann der Seite ist die kleinere, aber fast noch schoenere Sheikh Lotfollah-Moschee, die gegenueber des alten Palastes liegt. Der Platz ist rechteckig und harmonisch, und wie die Gaeste in dem Teehaus nicht ohne Stolz sagen, der zweitgroesste Platz der Welt, nach dem Tienanmen-Platz in Peking.

In Esfahan hole ich auch erstmals beim schreiben dieses Weblogs die Echtzeit ein: es ist jetzt Mittwoch, der 8. Oktober 2003, und ich bin, wie erwaehnt, in Esfahan. Hier ist es gerade vier Uhr nachmittags, das entspricht halb zwei deutscher Zeit: irgend wer im Iran hat beschlossen, dass der Iran der Greenwich-Time dreiEINHALB Stunden voraus ist. Ob das religioese Gruende hat, kann ich nicht sagen. Nachher fahre ich mit dem Nachtbus nach Tabriz im Nordosten Irans. Von dort will ich weiter in die Tuerkei, wo mir soeben ein aelterer, redseliger kanadischer Fahrradfahrer in dem Grenzort Dogubayazit eine Uebernachtung bei "Murat's Camping" dringend empfohlen hat. Von dort hat man offenbar einen atemberaubenden Ausblick auf den Berg Ararat. Ausserdem soll ich dort den Taxifahrer Mehmet herzlich von ihm gruessen, wenn ich ihn treffe. Vielleicht laedt Mehmet mich dann, so der Kanadier, auf ein "Efes"-Bier ein. Dann stellte heraus, dass der Betreiber des Hotels hier genau diesen Mehmet, den Taxifahrer aus Dogubayazit, ebenfalls kennt. Jedenfall werde ich versuchen, spaetestens am Mittwoch in Istanbul zu sein. Ob ich Mehmet dann getroffen habe, und was es mit Mehmet auf sich hat, werde ich dann von dort berichten.

Ich erreiche Tehran nach einer zwoelfstuendigen Fahrt von Maschhad aus morgens um elf. Schon bei der Ankunft zeigt sich, dass Tehran eine monstroes grosse Stadt ist. Das Busterminal ist auf beruhigende Weise modern, und anders als in Zentralasien oder China sind hier keine Trauben von Taxifahrern, die einen irgenwohin bringen wollen.

Der junge deutsche Diplomat, den ich in Kadschi Say getroffen hatte, arbeitet bei der Deutschen Botschaft in Tehran und hatte mir seine Telefonnummer gegeben. Wir treffen uns an einer Ubahnstation und gehen Mittag essen. Mit seiner Hilfe gelingt es mir endlich einen Reisefuehrer ueber den Iran aufzutreiben, ohne den ich zuvor in Maschhad ziemlich aufgeschmissen war. Schliesslich nehme ich ein Zimmer in dem kleinen "Hotel Naderi" in der Naehe der Botschaft. Nachdem ich in Maschhad das schlimmste Zimmer meiner bisherigen Reise bewohnt hatte, ist das "Naderi" mit seinem geraeumigen und sauberen Zimmer eine wohltuende Abwechslung. Den Rest des Tages verbringe ich im Zimmer und lese den Reisefuehrer.

Obwohl viele dies damit hervortun, wie schrecklich und laut Tehran sei, mag ich die Stadt. Tehran wirkt europaeisch, genauso wie die meisten Tehranis selbst. Dem Hotel Naderi ist beispielsweise das beruehmte gleichnamige Cafe angegliedert, in dem sich, wie es immer so schoen heisst, "die Intellektuellen" treffen, bloss das diese hier tatsaechlich echt zu seinen scheinen. Die Einrichtung ist klassich und karg, und die Bedienungen sind aeltere, wuerdevolle Herren. Das Naderi erinnert ganz stark an ein Wiener Kaffeehaus, und ist allein schon fast die Reise nach Tehran wert. Es befindet sich, bitte notieren, in Jomhuri-ye Eslami-Allee, schraeg gegenueber von der britischen Botschaft. Der Eingang liegt etwas versteckt neben der dazu gehoerenden Konditorei.

Am naechsten Tag ist Samstag, und nachdem am Vortag Freitag war und damit fast alle Geschaefte geschlossen hatten, hat nun wieder alles offen, und der beruechtigte Tehraner Verkehr ist wieder in voller Staerke entbrannt. Auf manchen Buegersteigen sind quer Gitter angebracht, um die allgegenwaertigen Motorradfahrer vom sonst uebliche Befahren der Gehwege abzuhalten. Wie die meisten Staedte seiner Art ist auch Tehran mit seinen ueber zehn Millionen Einwohnern ausser Kontrolle geraten und waechst weitgehend ungeplant. Entsprechend folgt auch der Verkehr nur schwer nachvollziehbaren Regeln.

Am Nachmittag besuche ich mit einem veganen norwegischen Studenten, der etwas persisch spricht und ebenfalls im Hotel wohnt, den nicht weit entfernten, labyrinthischen Bazar. Anders als auf arabischen Bazaren sind die Haendler zurueckhaltend, freundlich und unaufdringlich. Ueberhaupt ist der Iran die grosse Ueberraschung meiner bisherigen Reise: die ueberwaeltigende Freundlichkeit der Leute, die Schoenheit des Landes, die Problemlosigkeit, mit der man herumreisen kann. Ich frage mich, warum hier nur so wenige Auslaender unterwegs sind, zumal alles unglaublich billig ist. Die Fahrt von Maschhad nach Tehran, in einem neuen Volvo-Bus und ueber eine hochmoderne Autobahn, hat nur etwa sechs Euro gekostet und fuehrte ueber fast neunhundert Kilometer.

Abends treffe wieder ich Nils, den jungen Diplomaten, zum Abendessen. Er wohnt in einer traumhaften Wohnung am Nordrand von Tehran. Die Stadt liegt suedlich einer ueber viertausend Meter hohen Bergkette und zieht sich die Abhaenge hinauf. Seine Wohnung liegt auf 1800 Metern Hoehe, waehrend das Zentrum etwa fuenfhundert Meter tiefer liegt. Fuer mich wie ein Wunder hatte auch der Taxifahrer die Adresse gefunden. Die Fahrt fuehrte durch den abendlichen Verkehr durch das moderne und schicke Nord-Tehran, und es ging fast eine halbe Stunde nur bergauf. Wir essen in einem Restaurant, das seinerseits noch hoeher und sozusagen bereits in den Bergen liegt. Danach rauchen wir Wasserpfeife und trinken Tee, und das sei, sagt Nils, die normale Abendbeschaeftigung der gutgekleideten "Tehran Youth"; Bars, Clubs und Diskotheken sind in der Islamischen Republik nicht erlaubt. Die strengreligioesen Vorschriften des Staates wirken vor allem in Nord-Tehran wie ein Anachronismus, oder wie ein schlechter Scherz.

Maschhad ist eine Pilgerstadt, und voller iranischer Touristen. Suedlich der Stadt liegt eine kahle, gelbe Bergkette. Scheinbar liegt Maschhad ziemlich hoch, und man hat den Eindruck, sich im Gebirge zu befinden.

Die Frauen tragen, wie man es von Bildern kennt, schwarze Schleier, und die Maenner haben zumeist Schnauz- oder Vollbaerte. Zuweilen kommen enem ernst aussehende religioese Gelehrte in langen, wehenden Gewaendern entgegen, die den Koran unter dem Arm tragen. Dennoch ist der Iran ganz unverkennbar modern, zivilisiert und, wie soll man es anders sagen, im Grunde westlich. Das ist eine grosse Ueberraschung.

Der Hauptgrund als Muslim nach Maschhad zu kommen ist der Schrein im Zentrum der Stadt. Das Gelaende steht auch Nichtmuslimen und damit mir offen. Gerade werden sechs neue, riesige Minarette aus Beton errichtet, schon von weitem sichtbat sind.

Das Wort "Schrein" suggeriert vielleicht etwas kleines und altes, der Schrein in Maschhad ist jedoch eine gigantische Anlage, die auf zehntausende, wenn nicht sogar hunderttausende von Pilgern ausgerichtet ist. Man betritt das Gelaende durch eine Pforte, in der man von Mitarbeitern des Schreins etwas nachlaessig auf die verbotene Mitnahme von Kameras abgetastet wird. Andere Mitarbeiter mit schwarzen Muetzen sorgen etwa dafuer, dass Frauen nur die fuer Frauen vorgesehene Innenhoefe betreten und Maenner in den fuer Maenner bestimmten Gebetsbereich gehen. Als Zeichen ihres Amtes tragen sie grosse, bauschige Staubwedel in Regenbogenfarben, die man in Berlin in tuerkischen Supermaerkten kaufen kann. Das ganze sieht wirklich sehr seltsam aus.

Die Anlage ist neu und wird gerade erweitert. Die Gebaeude sind alter islamischer Architektur nachempfunden, in Wirklichkeit jedoch aus Beton, der mit einer bunten, gekachelten Fassade ueberzogen ist. Ich sitze morgens eine Weile in einem der Inennhoefe und denke, dass dies wirklich vielleicht nur eine Fassade ist, die die "Islamische Republik" aus ihren Grundsaetzen heraus errichtet hat.

Gegegen Abend kehre ich in die Anlage zurueck, und anders als am Morgen haben sich tausende von Glaeubigen versammelt. Es ist Donnerstag abend, und am naechsten Tag ist Freitag, der islamische Sonntag. Der Innenhof, in dem ich zuvor gesessen hatte, ist nun voll von Maennern, die auf Teppichen knien und beten. Gemaess des monotonen Gesangs des islamischen Priesters steht die Menge simultan auf, kniet nieder, verneigt sich, und steht wieder auf.

Auf bestimmte Weise scheint die Luft buchstaeblich energiegeladen. Man spuert die dichte, konzentrierte, spirituelle Athmosspaehre, die von den tausenden betenden Maennern hervorgerufen wird. Mit einem Mal wirkt der Schrein nicht mehr wie eine Kulisse, sondern wie ein religioeser Ort, dessen Wirkung man sich kaum entziehen kann.

Nach zweieinhalb Stunden halsbrecherischer Fahrt durch die Wueste erreiche ich endlich den turkmenischen Grenzort Saraghs, ein oedes, trostloses Nest irgendwo im Nichts, nahe der iranischen Grenze. Ich gebe dem Fahrer ein paar Turkmenbaschi-Geldscheine mehr, damit er mich direkt bis zur Grenze faehrt.

Diese Grenze wirkt um die Mittagszeit fast wie ausgestorben. Ein paar einzelne iranische Lastwagen warten auf die Zollabfertigung.

In der Bretterbude sind etwa zwanzig Grenzer beschaeftigt, und zu meinem Glueck spricht die einzige Frau unter ihnen hervorragend englisch. Somit macht es nichts aus, dass auch hier ploetzlich eine Zollerklaerung fehlt, obwohl der turkmenische Konsul in Turkmenistan mir versichert hatte, eine Zollerklaerung sei fuer Transitreisende nicht noetig und ich koenne "Millionen von Dollars" ein- und ausfuehren. Sie bittet mich, eine Erklaerung auszufuellen und sagr, "Mr. Alexander, bitte seien Sie ehrlich und sagen uns, wieviel Geld sie dabei haben. Das brauchen meine Kollegen fuer ihre Unterlagen - haben Sie bitte keine Angst, wie nehmen Ihnen wirklich nichts weg!" Es ist Mittagszeit, und sie sagt, ich koenne in der Kantine der benachbarten Bank etwas zu essen kaufen. Normalerweise haelt einen normalen Menschen nichts laenger an einer schizophrenen zentralasiatischen Grenze als unbedingt noetig, aber in ihrer Begleitung ist dies anders. Die Bank heisst, wie moeglicherwiese vorauszusehen war, "Turkmenbaschi Bank", und die Grenzerin sagt: "Ja, Turkmenbaschi ist unser Praesident, und er ist ein grosser Mann!", aber ich bin nicht ganz sicher, ob dort nicht eine grosse Portion Ironie mitschwingt, es kann eigentlich nicht anders sein.

Zurueck in der Bretterbude bekomme ich einen Ausreisestempel. Der einzige Ausreisende ausser mir ist ein iranischer Lastwagenfahrer, der mich in seinem riesigen "Mack"-Sattelschlepper mit hinueber zur iranischen Grenzstation nimmt. Zwischen den beiden Stationen liegt, auf der ehemals sowjetischen Seite, ein zwei Kilometer breiter Streifen Oedland. Dann kommt ein kleiner Flusslauf, der die eigentliche Grenze bildet. Vor der Bruecke ist ein letzter, verfallener Kontrollpunkt, in dem zwei schwerbewaffnete, wie Cowboys aussehende junge turkmenische Grenzsoldaten noch einmal die Paesse kontrollieren. Dann ueberqueren wir eine Eisenbruecke, und sind ploetzlich auf einem Parkplatz, der schon zum Iran gehoert. Diesen Moment hatte ich in den letzten Wochen oftmals herbeigesehnt.

Das iranische Zollgebaeude ist neu und klimatisiert, die Hinweisschilder sind nicht von Hand geschrieben, sondern modern und wohlgestaltet, die Grenzer sind freundlich und gut angezogen, und schon vom ersten Eindruck bin ich wieder in der freien, westlichen, zivilisierten Welt gelandet, auch wenn das im Zusammenhang mit dem Iran merkwuerdig klingen mag. Von hier aus ist von Turkmenistan nichts zu sehen, nur ein einzelner Wachturm ragt in der Ferne auf. Die Sowjetunion hatte sich hinter zwei Kilometern Niemandsland von der uebrigen Welt zurueckgezogen.

Wenn ich mir diesen Moment in den Tagen zuvor vorgestellt hatte, hatte ich immer ein Gefuehl freudiger Erleichterung erwartet, der totalitaeren Athmossphaere entronnen zu sein. Jedoch fuehle ich mich jetzt zu meiner eigenen Ueberraschung seltsam leer, als haette ich einen Verlust erlitten, oder als haette man mich aus meiner vertrauten Umgebung herausgerissen - auf irrationale Weise fuehle ich mich einen Moment lang schutzlos. Ich erinnere mich, dass Aussiedler oder Fluechtlinge aus dem Ostblock von aehnlichen Momenten berichteten, obwohl ich mich mit ihnen nicht ernsthaft vergleichen kann. Aber vielleicht macht zuviel Staat doch abhaengig.

Ich warte etwa eine Viertelstunde auf meinen Pass, und der iranische Beamte scheint nicht ganz zu glauben, dass ich derjenige auf dem Photo bin. Er vergleicht etwa fuenfmal, und gibt mir dannn den Pass stirnrunzelnd zurueck. Bei der "Bank Melli" tausche ich ein paar Dollars in iranische "Rials", und mache mich auf den Weg nach Maschhad.

Der Grenzposten nach Turkmenistan liegt mitten in einer Wueste. Ich bin ziemlich nervoes, da ich keine usbekische Zollerklaerung habe, die eigentlich jeder Reisende haben muss, mir jedoch niemand bei der Einreise gegeben hatte. "Da haben Sie ein Problem", hatte mir ein Mitarbeiter der Deutschen Botschaft in Taschkent am Telefon mitgeteilt, als ob ich mir das nicht selber schon gedacht haette.

Die letzten Meter bis zur Grenze lege ich in einem braunen Wolga zurueck. Dort treffe ich, wie so oft in Zentralasien, spontan jemanden, der mir sofort weiterhilft. Diesmal ist es Wladimir, ein junger russischer Programmierer aus Taschkent, der seine Eltern in Mary besuchen faehrt und sagt, er werde das mit den Grenzern regeln. Schliesslich kann ich das Land verlassen, ohne dass der Zoll wegen der fehlenden Zollerklaerung mein Bargeld einzieht. Ich fuehle mich unglaublich erleichtert; dies hatte mir schlaflose Naechte bereitet. Seitdem ich in Usbeksiatn bin, glaube ich nachvollziehen zu koennen wie es sein muss, auf Dauer in einem Land zu leben, in dem die Freiheit fehlt.

Zu Fuss laufen wir zwei Kilometer durch ein Niemandsland, bevor wir den turkmenischen Posten erreichen. Jedoch wirkt auch hier alles provisorisch und nicht wie eine Grenze. "Das hier ist die Sowjetunion, und das wird auch noch einhundert Jahre so bleiben", sagt Wladimir. Als die Laender unabhaengig wurden, arbeitete er gerade in Taschkent un bekam daher einen usbekischen Pass. Seine Eltern waren in Mary geblieben und wurden zu turkmenischen Staatsangehoerigen, weshalb er ein Visum brauchte, um sie zu besuchen.

Die turkmenische Grenzstation ist nicht viel mehr als eine Huette, in der das Bild des groessenwahnsinnigen Staatspraesidenten haengt, der sich selber offiziell "Turkmenbaschi" nennt, was soviel wie "Vater aller Turkmenen" bedeutet. Sein Gesicht ist ueberall, auch auf den Banknoten, die ich zuvor getauscht hatte. An der Grenze stauen sich Lastwagen aus der Tuerkei und aus dem Iran.

Ich habe genug von Zentralasien: ich sehne mich nach einem freien Land, nach Farbe, nach Strassen ohne Polizeikontrollen. Daher beschliesse ich, nicht in die Hauptstadt Aschgabat, sondern so schnell wie moeglich in den Iran weiter zu reisen.

Wladimir laedt mich zu seinen Eltern nach Mary ein, am naechsten Tag will ich weiter nach Saraghs an der iranischen Grenze.

Wladimir hat seine Eltern seit vier Jahren nicht gesehen, und ist seit sieben Jahren nicht zuhause gewesen, obwohl Taschent nur etwa siebenhundert Kilometer entfernt liegt. Wir sitzen im Wohnzimmer, essen zu Abend und schauen Fernsehen. Nach so langer Zeit dauert es bestimmt lange, bis ein langes Gespraech zustandekommt, und ich fuehle mich hier etwas fehl am Platz.

Mary selbst ist eine Industriesstadt mit breiten, leeren Strassen, die laut Reisefuehrer dem Reisenden nicht viel mehr zu bieten hat als "ueberwaeltigende Langeweile". Am naechsten morgen nehmen wir ein wortkarges Fruehstueck ein, Wladimir und sein Vater begleiten mich zum Platz in der Naehe, von dem aus Sammeltaxis zur iranischen Grenze abfahren. Ich kann es kaum glauben, dass ich die alte sowjetische Welt in wenigen Stunden endlich verlassen haben werde.

Alischer, einer der wenigen Gaeste auf Umids Hochzeit der englisch sprach, hatte mich zu sich nach Hause eingeladen. In Taschkent muss ich auf das iranische und das turkmenische Visum warten. Alischer wohnt mit zu seiner Mutter und seiner Schwester in einem sowjetischen Plattenbau in der Naehe des Flughafens. Zwischen den Wohnbloecken verlaufen dicke Heizungsrohre auf Stelzen, so wie auf einem Industriegelaende. Die Wohnung selbst ist aber gemuetlich und schoen, was man dem Haus von aussen nicht ansieht. Die Khalmatows sind von so grosser Herzlichkeit und Gastfreundschaft, dass ich schlicht nicht weiss, was ich tun soll. So etwas habe ich noch nie erlebt. Da die Wohnung bereits fuer drei Leute zu klein ist, ziehen Alischer und ich in ein gerade nicht vermietetes Haus im Zentrum Taschkents, das Alischers Tante gehoert.

Taschkent wurde in den sechziger Jahren - das genaue Datum kann einem buchstaeblich jedes Kind in Taschkent sagen - vollkommen zerstoert und nach den Vorstellungen sowjetischer Stadtplaner vollkommen neu errichtet.
Die Stadt ist sehr gross, sehr sowjetisch und hat die Athmosspaere der Hauptstadt eines Polizeistaates. Ueberall ist Polizei: in der Ubahn, in den Strassen, vor den Eingaengen von Banken und Hotels. Hier muss man, so wird klar, nicht vor Kriminalitaet Angst haben, sondern vor der Polizei. Das Viertel, in dem das Haus der Tante steht, liegt jedoch zwischen zwei Boulevards und hat etwas doerfliches. Dort werden, vermutlich als einziger Ort in Taschkent, neue Haeuser gebaut: hierher ziehen Botschaftsangestellte und reiche Taschkentliks, und die meisten alten Bewohner werden irgendwann wegziehen. An den Boulevards selbst, abseits des Zentrums, macht Taschkent manchmal den Eindruck einer Stadt in der Dritten Welt, die noch von den von der Sowjetunion ueberlassenen Strukturen der Ersten Welt zehrt.

Ich warte etwa eine Woche auf meine Visa. In dieser Zeit werde ich fast in Taschkent heimisch, kenne die Laeden, Leute, habe Freunde, und weiss, wo es das beste Fladenbrot zu kaufen gibt. In bin in unfassbar heruntergekommenen Wohnungen, bei unglaublich freundlichen Menschen, in den finstersten und in den teuersten Gegenden von Taschkent. Alle, mit denen ich spreche, wollen weg aus Usbekistan, weil es schlichtweg keine Zukunft gibt. Viele verdienen zwanzig US-Dollar im Monat. Ilhom, der auch auf der Hochzeit war, verdient als Assistent beim Lehrstuhl seiner Universitaet umgerechnet nur acht Dollar im Monat. Davon kann niemand leben, auch in Usbekistan nicht, und wie es doch funktioniert, bleibt ein Raetsel. Alles ist schwierig, selbst ein einfacher Telefonanruf innerhalb Taschkents ist schwierig, weil die Verbindung oftmals so schlecht ist, dass man nichts verstehen kann.

Deutschland erscheint in Usbekistan wie ein Traum von einer besseren und vor allem gerechteren Welt, in der es Arbeit und Zukunft gibt. Ist es leicht, in Deutschland Arbeit zu finden? Wie schwierig ist das mit dem Visum? Braucht man eine Einladung? In welchem Beruf kann man am besten arbeiten?

Eines Abends landen wir mit Max, ein Freund von Alischer aus der Nachbarschaft, bei Stanislaw und Eugenij, zwei russische Brueder, die einen Getraenkestand auf dem Markt bereiben und somit unter die "businezmen" gegangen sind. Stan und Max haben zusammen studiert und einen praktisch wertlosen Abschluss erworben, weil es in diesem Berufsfeld sowieso keine Arbeit gibt. Wir treffen Stan und Eugenij auf dem "Broadway", der jahrmarktartigen Ausgehstrasse im Zentrum von Taschkent. Die beiden haben sich gerade fuer ihr Geschaeft einen gebrauchten Kleinbus aus tuerkischer Produktion angeschafft, mit dem wir zwei Stunden bei lauter Musik im naechtlichen Taschkent herumfahren. Die Stadt ist nachts dunkel, die Strassenlaternen verbreiten, aehnlich wie frueher in Ost-Berlin, ein truebes, orangenes Licht. Einmal halten wir an einer Asufallstrasse, wo die beiden "schwarz" Diesel kaufen, weil sich bei den Preisen an der Tankstelle das Geschaeft nicht lohnen wuerde. Schliesslich fahren wir in ihre Wohnung, die in einem Plattenbau genau am Stadtrand liegt. Hier bleiben die Strassenlampen aus Kostengruenden abgeschaltet, und die Strasse ist fast vollstaendig dunkel. Wir versuchen ein paar Flaschen Bier an einem Kiosk zu kaufen, es ist jedoch ausverkauft, es gibt nur Wodka, der pro Flasche genauso viel wie eine Flasche billiges "Karagandinskij"-Bier kostet. Die Wohnung erreicht man durch ein verfallenes Treppenhaus, in dem die Bewohner des Plattenbaus Sperrmuell abgestellt haben, wundersamerweise ist das Licht in diesem Treppenaufgang nicht kaputt, dafuer ist an manchen Stellen das Treppengelaender herausgerissen. Die Wohnung selbst ist fast leer, im Wohnzimmer sind nur zwei bunte, usbekische Matratzen zum sitzen und liegen, und in der Ecke steht ein alter Fernseher auf einem Holztuhl. Der Boden ist mit braunem, duennen Linoleum belegt. Eugenij faengt an, in der Kueche blass aussehende Wuerstchen zu braten, und im Fernsehen laufen auf einem russischen Musiksender amerikanische Heavy-Metal-Videos aus den Achtziger Jahren. "Die beiden sind wie Kinder", sagt Alischer einmal zu mir, "schau dir nur mal die Wohnung hier an!" Schliesslich hat jemand doch noch Bier aufgetrieben, so dass ich nicht mit Stanislaw und Max die Flasche Wodka austrinken muss. Wir stossen auf Berlin an, und auf Taschkent, und auf alles moegliche. Wie scheinbar alle Russen wollen auch Stan und Eugenij nach Berlin. Schliesslich, nach vielen theatralischen Toasts auf die Zukunft, sage ich den beiden, dass das Leben in Deutschland und Berlin nicht das Paradies und keinesweigs einfach ist, vor allem fuer Immigranten, als Max mich unterbricht und bestimmt sagt: "Das ist uns allen voellig klar. Aber du hast keine Vorstellung davon, WIE beschissen hier alles ist!"

Fuer ein Wochende fahre ich nach Samarkand und bin am Sonntag abend wieder in Taschkent. Am Montag sind beide Visa fertig, und ich nehme mit Mr. Koji, den ich zufaellig an der turkmenischen Botschaft wiedergetroffen habe, den Nachtzug nach Bukhara, um von dort aus am Dienstag weiter nach Turkmenistan zu fahren. Die Khalmatows bringen mich zum Taschkenter Bahnhof, und es ist ein Abschied von Freunden.

In Bischkek ist es buchstaeblich ueber Nacht Herbst geworden, und alle haben ihre Winterjacken hervorgeholt. Dies sei ganz normal, versichern alle, der Herbst fange am 15. September an.

Mit einer alten Anotonow-24 Propellermaschine fliege ich zurueck nach Osh. Zwar sind Bischkek und Taschkent, mein naechstes Ziel, mit einer Schnellstrasse verbunden, diese fuehrt jedoch ein kleines Stueck durch Kasachstan, und das noetige Transitvisum waere, von der Wartezeit ganz abgesehen, genauso teuer wie das Flugticket gewesen.

Am "Manas International Airport" in Bischkek stehen Tankflugzeuge der amerikanischen Luftwaffe auf dem Vorfeld, ein weiteres trifft ein, als ich auf den Abflug warte, ein anderes fliegt ab. Im Luftraum ueber dem Irak scheint einiges los zu sein. Der Flug nach Osh dauert nur eine Stunde und ueberquert das Gebirge, das die beiden Landeshaelften Kirgisiens trennt. Die Schneefelder und Gletscher reichen hoch hinauf. Die russische Sterwardess der "Altin Airways" serviert Tee und einen in grobes Wachspapier eingewickelten Keks.

Vom Flugplatz in Osh sind es nur wenige Kilometer bis zur kirgisisch/usbekischen Grenze. Der kirgisische Grenzer sitzt hinter einer Schulbank an der Strasse und traegt mit einem Kugelschreiber meinen Namen und die Nummer meines Reisepasses in ein abgewetztes Buch ein, das ausieht wie ein dickes Rechenheft. Einen Ausreisestempel bekommt offenbar niemand.

Jenseits der Grenze sieht es im Grunde genauso aus wie in Osh, und die Grenze wirkt daher mehr wie eine auf Dauer angelegte Strassensperre. Jedoch sind mehr usbeksiche Frauen mit bunten Gewaendern und goldenen Zaehnen auf der Strasse, und in dem Bus nach Andijan. Von dort will ich ein Sammeltaxi nach Taschkent nehmen.

Im Taxi treffe ich Faruk und Umid, die auf dem Weg zu der Hochzeit eines Freundes in Bukhara sind. Sie laden mich kurzerhand auch ein und versichern mir, es sei in Usbekistan vollkommen normal, dass man das Hochzeitspaar nicht kennt, und ausserdem wuerde sich ihr Freund ueber auslaendische Gaeste besonders freuen. Zur iranischen Botschaft koenne ich ja auch am Montag gehen. Wir fahren durch das Fergana Tal und versuchen an einer Tankstelle Benzin zu bekommen, vor der sich eine lange Autoschlange gebildet hat. Es gaebe kein Benzin mehr, seitdem es auf Beschluss des usbekischen Staatspraesidenten Islam Karimow zur Schuldentilgung ins Ausland verkauft wird. Bei Dunkelheit erreichen wir die Aussenbezirke von Taschkent, und steigen in einen Minibus nach Bukhara um. Bei Morgengrauen kommen wir in einem Dorf in der Naehe von Bukhara an, wo wir und bei einem Freund von Umid ein paar Stunden ausruhen. Das alles erscheint wie eine Art Traum.

Die Hochzeit findet in den Elternhaeusern von Umid (wie der Braeutigam ebenfalls heisst) und Marjam statt. Es kommen hunderte von Gaesten. Am Freitag laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren: im Innenhof des Anwesens von Umids Eltern stellen wir Baenke auf, ein etwa zwoelfjaehriger Cousin von Umid schlachtet ein Schaf, andere heben eine Grube fuer das Feuer aus, ueber dem spaeter das beruehmte "Osh" in einem riesigen Kessel zubereitet werden soll.

Am Samstag kommen schliesslich wirklich hunderte von Gaesten. Das Brautpaar steht stundenlang hinter einem reichgedeckten Tisch und verneigt sich ab und zu, um, so wird mir erklaert, den Gaesten Respekt zu zollen. Die Gaeste nehmen davor scheinbar nur am Rande Notiz und sind dabei, die Massen an Speisen zu vertilgen, die unablaessig herangetraegn werden. In der Mitte des Hofes spielt eine Kapelle usbekische Musik, die fast so wie tuerkische Musik klingt. Abends wiederholt sich das ganze im Hause der Braut, bloss das hier das Brautpaar nicht hinter einem Tisch, sondern in einem eigens aufgebauten Kasten blinkenden Kasten steht, der aussieht wie eine Schiessbude auf einem Jahrmarkt.

Am Sonntag schaffen wir es sogar, kurz Bukhara selbst zu besichtigen: die Stadt ist alt, und ein Meisterwerk islamischer Architektur, mit blauen Kuppeln und reichverzierten, gekachelten Waenden.

Am naechsten Tag, ein Samstag, gehe ich morgens wieder mit meinen Freunden aus Bischkek im See schwimmen. Das Wasser des Issyk Kul ist volkommen klar, und die Sonne scheint fast ungetruebt auf den sandigen Grund des Sees hinunter. Auf dem See gibt es keinerlei Verkehr, kein Schiff, kein Segelboot, nicht einmal ein Ruderkahn ist zu sehen. Dadurch wirkt der See auf urtuemliche Weise unberuehrt.

Mein Plan ist des, den See einmal ganz zu umrunden und am Montag abend wieder in Bischkek zu sein. Am Dienstag morgen habe ich einen Termin bei der uneffektivsten Botschaft der Welt, der usbekischen Botschaft. Gegen Mittag verabschiede ich mich von allen und mache mich auf zur Strasse, um ein Auto oder einen Bus nach Karakol am Ostende des Sees zu finden. Tamchi ist auch tagueber verschlafen, ausser mir steht nur ein junges Maedchen an der Strassse, das gerauecherten und getrockneten Fisch vekauft. Hinter Tamchi, nach Norden hin, ragt die schneebedeckte Bergkette auf, die seit wenigen Jahren die Grenze zum neuentstandenen Staat Kasachstan bildet. Alles ist so ruhig und plastisch, so idyllisch und uebersichtlich, dass die Zeit auch hier stillzustehen scheint. Von hier aus, hier an der Landstrasse von Balykchy nach Karakol, kann man unmoeglich darauf schliessen, dass wir das Jahr 2003 schreiben. Selbst die gelegentlich vorbeifahrenden Autos, die als eine der wenigen Gegenstaende eine Zeitbestimmung zulassen, sind alt.

Das erste mal seit laengerer Zeit bin ich wieder allein, und ploetzlich habe ich dieses Gefuehl, dem in "On the Road" ein ganzes Buch gewidmet ist: einfach die Freiheit zu haben, irgendwo hin zu fahren, und zu wissen, das dies, irgendwie, auch klappen wird - bloss dass ich nicht in den dreissiger Jahren auf einer amerikanischen Landstrasse unterwegs bin, sondern mitten in Kirgisien, irgendwo im hintersten Winkel der Welt, in einem kleinen, staubigen Nest mit Holzhaeusern und buntgestrichenen Fensterrahmen.

Nach etwa einer halben Stunde haelt ein alter, rundlicher Bus, der tatsaechlich so auch in "On the Road" vorkommen koennte. Der Bus ist bestimmt vierzig Jahre alt und nur halbvoll. VOr mir sitzt ein Betrunkener, der gelblichen Fusel aus einer angestossenen Glasflasche trinkt und beharrlich den Umstand ignoriert, dass ich kein Russisch verstehe. Nach einer weiteren halben Stunde schlaeft er schliesslich ein.

Der Bus macht eine Pause in Cholpon Ata, einem alten Heilbad und zu sowjetischen Zeiten sehr beliebten Kurort. Jetzt, wo die Grenzen zwischen den neuen Staaten immer undurchlaessiger werden und ueberall das Geld fehlt, bleiben die meisten Gaeste weg. Der Ort hat seine besten Tage laengst hinter sich und erscheint traurig und verlassen. Hinter Cholpon Ata ist das Nordufer wieder lieblich, mit einer losen Folge kleiner, russischer Doerfer und Birken.

Die Nacht verbringe ich in Karakol in einem Gasthaus, in dem vor allem auslaendische Alpinisten und Backpacker wohnen, sowie die etwas ueberfordert wirkenden Mitglieder eines Amateur-Photografen-Clubs aus Potsdam. Ein weiterer Gast in ein junger Anthropologe aus den Niederlanden, der vor einigen Jahren monatelang hier in Karakol gewohnt hat und die Leute in dem Laden, in dem wir uns abends "Baltika"-Bier kaufen, noch beim Namen kennt. Er wohnt jetzt, nach Jahren in Aserbaidschan und Georgien, in Bischkek und macht jetzt eine Studie ueber den Einfluss von Religion im unabhaengigen kirgisischen Staat: Missionare aus aller Welt haben Zentralasien als ihr neues Missionsgebiet entdeckt, und allein in Kirgisien gibt es etwa 1500 christliche Missionare, vor allem aus Korea und den Vereinigeten Staaten.

Karakol selbst ist ein alter russischer Aussenposten am Suedrand der alten Sowjetunion. Oestlich von Karakol liegt das gewaltige Massiv des Tianshan, hinter dem China beginnt. Hier gibt es keine Passtrassen hinueber, sondern nur Pfade, die auf ueber 4000 Meter hinaufreichen.

Am naechsten Morgen nehme ich einen Bus in Richtung Balykchy am Westende des Sees, der in Kadschi Say haelt. Choro hatte Kadschi Say als einen der weitaus reizvollsten Orte des Suedufers beschrieben, und allgemein wurde in Bischkek das Suedufer fuer interessanter und reizvoller gehalten als das Nordufer des Issyk Kul. Der Bus ist noch aelter und runder als der Bus am Vortag, und ueber dem Fahrersitz sind Girlanden, Plastikblumen und eine tirolerisch aussehende Zierverkleidung aus Holz angebracht. Noch in Karakol versucht der Fahrer an verschiedenen Orten Benzin und Motoroel aufzutreiben. Das Motoroel wird von einem Maedchen verkauft, die an einer Strassenkreuzung hinter einem oelverschmierten Holztisch sitzt. Auf dem Tisch stehen Einmachglaeser, die mit fast schwarzem, dicken Oel gefuellt sind.

Der Bus schaukelt durch verschiedene Orte am Suedufer, und allmaehlich wird die Uferlandschaft immer trockener und einsamer. Die Erde nimmt eine roetliche Faerbung an, die Vegetation wird spaerlich und besteht vor allem aus savannenartigen, stacheligen Bueschen. Nach etwa vier Stunden haelt der Bus schliesslich in einer Ansammlung von flachen Hauesern, die vor dem Hintergrund einer tiefroten, zerkluefteten Huegelkette stehen: das sind die "Red Canyons", von denen Choro mit in Bischkek erzaehlt hatte. Dahinter ragt wieder das schneebedeckte Gebirge auf. Ich steige aus und der Bus fahert davon, und ich stehe mitten in diesem verlassenen Ort, Kadschi Say.

An der Hauptstrasse ist eine kleine Baeckerei, die eigentlich nur aus einer Holzbude und einem Lehmofen davor besteht. Dort treffe ich Agbar und seine zwei Breuder. Agbar spricht etwas englisch, kommt aus Osh und ist Usbeke. Ich kaufe ein frisches Fladenbrot, und die Brueder laden mich zu Tee und dem schon altbekannten "Osh" ein. Sie arbeiten die Sommermonate hier in Kadschi Say, aber jetzt, Mitte September, sei die Saison schon vorbei, und die meisten Gaeste sind abgereist. Agbar hilft mir, die Adresse von Nurschan in der "Uliza Garaschna" zu finden. Nurschan ist eine relativ junge Frau, die mit ihrem Mann und ihren Kindern ein sehr einfaches Holzhaus fast direkt an der Strasse bewohnt. Ich kann auf einer Couch im Wohnzimmer uebernachten.

Kadschi Say hat etwaz zutiefst unwirkliches an sich. Ich versuche herauszufinden warum, vielleicht ist es die Assoziation zu Patagonien, die Einsamkeit, die Einfachheit und Aermlichkeit der Haeuser, die majestaetischen, aber abweisenden Berge. Hier ist alles noch spaerlicher als in Tamchi. Es gibt nichts ausser ein paar Holzhaeusern, ein paar windschiefen Zaeunen, zwei Laeden, ein verfallenes, sowjetisch-futuristisches Bushaeuschen. Die Laeden verkaufen eigentlich nur Brot und Wodka. Diese wenigen Objekte im Ort lassen ihn fast so reduziert wie eine Theaterkulisse erscheinen. Selbst die Farben wirken auf seltsame Weise spaerlich und verblasst. Die wenigen Leute auf der Strasse sind entweder schweigsame Kirgisen mit hohen Fellmuetzen, oder seltsame, ebenso schweigsame Russen. Ein schiefer Steg fuehrt auf das Wasser hinaus. Ich mache Photos, in Farbe und in Schwarzweiss, und komme mir unfassbar fremd hier vor. Der Strand liegt fast verlassen, nur ein paar Kinder baden. Anders als am Nordufer gibt es hier einen Sandstrand und Wellengang, fast so wie an einer Meereskueste.

Abends esse ich eine Art Suppe im "Cafe Altai". Auch dieses ist im Inneren fast leer, ein paar Holztische, Brotkoerbe aus blassblauem Plastik und eine Tafel, auf der mit kyrillischen Buchstaben "europaeische und kirgisische Kueche" geschrieben steht. Ich bin der einzige Gast hier. Ich schaue ueber meine Suppe durch die offene Tuer auf die Strasse hinaus. Einmal faehrt ein alter Lastwagen vorbei, der auf der Seite die Aufschrift "Sester Koelsch" traegt.

Am naechsten Morgen erwache ich auf der Couch in Nurschans Wohnung und schmiede Fluchtplaene. Ich ueberlege fieberhaft, wie ich am schnellsten aus Kadschi Say wieder herauskomme, und erwaege sogar, einfach wieder nach Tamchi zu fahren. Kadschi Say ist fuer mich, alleine hier seiend, einfach zu viel, und ich kann mir nicht vorstellen, was ich hier noch einen Tag lang machen sollte. Gleichzeitig will ich aber vorher noch soviele Photos wie moeglich machen. Es ist keineswegs so, dass der Ort bedrohlich oder gefaehrlich ist, sondern er ist einfach zu fremdartig, zu verlassen, zu einsam und bizarr, als dass ich noch einen Tag bleiben will.

Gegen halb elf haelt ein Minibus nach Bischkek an der Strasse. Ich treffe noch einmal Agbar, der mich in den Bus lotst. Im Bus sind neben weiteren Geaesten auch ein junger deutscher Diplomat und seine Freundin. Mit einem mal loest sich das Gefuehl der Fremdartigkeit auf, so als haette ich eine alte, vetraute Jacke angezogen. Um fuenf Uhr erreichen wir Bischkek.

Nachdem ich endlich unter widrigsten Umstaenden mein usbekisches Visum beantragt habe, beschliesse ich zum Issyk Kul See zu fahren. Choro, der Sohn von Mr. Sabyr, der in den Niederlanden studuert hat und mit einer Hollaenderin verheiratet ist, gibt mir ein paar Adressen von "Bed & Breakfasts" rund um den See.

Am Hyatt Hotel frage ich einen Taxifahrer, ob er mich fuer 40 "Som" zum Busbahnhof fahren will. Der Taxifahrer faehrt einen blankgeputzten, etwa 10 Jahre alten Audi 100 und hat erstaunliche Aehnlichkeit mit Ion Tiriac. "Vierzig?", fragt er mich, als ob ich etwas vollkommen absurdes von mir gegeben haette. "Fuenfzig", sagt er, und mit Blick auf das Auto scheint mir das ploetzlich auch richtig, und ich steige ein. Das Innere des Wagens ist noch gepflegter als das Auessere, und er lernt Englisch, indem er sich amerikanische Filme im Kino anschaut.

Wir kommen an der Busstation an, und schon von weitem kommen die Buskartenverkaeufer auf das Taxi zugerannt. Das sind die Momente, in denen man sich fragt, warum man eigentlich nicht zuhause geblieben ist, vor allem, wenn man kein Russisch kann. Das ganze sieht unangenehm aus.

Jedoch fahre ich mit dem juengeren Bruder von Ion Tiriac, und muss mir daher ueberhaupt keine Sorgen machen. "Moment", sagt er, als die Horde auf uns zukommt, "Moment!". Er laesst das elektrisch betriebene Seitenfenster herunter und fragt fuer den Preis nach Tamchi, meinem Fahrtziel; es soll 200 Som Kosten. Er antwortet auf Russisch, laessig aus dem Fahrersitz heraus und hinter der Sonnenbrille hervor, soviel kann ich verstehen: "Hoert mal Freunde, wir sind hier keine Idioti !!" Dann nennt er einen viel niedrigeren Preis, wir fahren ein Stueck vor und dann noch eines, und schliesslich sitzte ich einem Kleinbus nach Tamchi und habe die Mobil-Nummer meines neuen Freundes in der Tasche, den ich auf jeden Fall anrufen soll, wenn es Probleme verschiedenster Art gibt; er wird sie loesen, soviel ist sicher.

Im Bus nach Tamchi ist eine Gruppe juengerer Angestellter einer kirgisischen Firma fuer Telekommunikation, sie befinden sich auf einem gemeinsamen Wochenendausflug an den See. Das Westende des Sees ist etwa zwei Stunden von Bischkek entfernt. Der Issyk Kul ist etwa 150 Kilometer lang, und, von Nord nach Sued, etwa 30 Kilometer breit. In Tamchi, so hat Choro mir erklaert, soll es heisse Quellen geben, und der See friert auch im Winter niemals zu.

Ich werde zu zwei Runden kirgisischem Kognak eingeladen, und die Stimmung im Bus steigt unaufhoerlich. Dann werde ich dazu eingeladen, mit ihnen das Wochenende zu verbringen; da jedoch nur einer von ihnen, Alexeij, englisch spricht und ich nicht so recht weiss ob ich das annehmen soll, fahren wir zuerst zu der Adresse von "Lydia" in Tamchi. Tamchi ist ein verschlafener kleiner Ort aus niedrigen Holzhaeusern und Sandwegen, der so auch in Polen oder Russland stehen koennte. Der See ist tiefblau, und an beiden Seiten ragen schneebedeckte Berge bis auf ueber 5000 Meter auf; der See selbst liegt auf fast 1500 Metern.

Lydias Haus ist ein kleines Paradies. Es gibt einen gruenen Innenhof, liebevoll hergerichtete Zimmer, und einen kleinen, von einer heissen Quelle gespeisten Pool. Lydia selbst ist der vermutlich freundlichste Mensch des Seeufers, und kaum habe ich meine Sachen in das Zimmer gestellt und gehe auf den Hof hinaus, kommt die Gruppe aus dem Bus mit ihrem Gepaeck, die sich spontan entschliesst, auch hierzubleiben.

Mit Wassili, Lydias Ehemann, gehe ich an das Seeufer hinunter. Das Ufer ist eine flache Wiese, auf der ein paar Schafe und Pferde grasen. Wir stehen mit den Fuessen im Wasser und sehen uns den Sonnenuntergang an. Es ist einfach grossartig.

Spaeter laden mich meine neuen Freunde von der kirgisischen Telekom-Firma auf einen Wodka und ein Abendessen auf ihren Holzbalkon ein, danach, erlaeren sie mir, gehen wir zusammen schwimmen. "Saschenka, mit dem Wodka friert man im Wasser nicht, mach dir keine Sorgen", erklaeren sie mir, und sie haben natuerlich recht. Wir gehen zusammen in der Dunkelheit zum See hinunter und nehmen jeder noch einen Kognak. Das Wasser ist kalt und ein bisschen salzig, wenn man es in den Mund bekommt. Der Mond scheint, und das Ufer ist so flach, dass man weit in den See hinausgehen kann, bevor es tief wird. Jemand hat einmal gesagt, Glueck sei der Moment danach, aber das hier ist, jetzt, eine der Sternstunden, daran gibt es ueberhaupt keinen Zweifel.

Die Adresse des "Bed & Breakfast" liegt tatsaechlich genau gegenueber der deutschen Botschaft. Die Botschaft ist in einer kleinen Villa untergebracht und von einem hohen, offiziell aussehenden schmiedeeiseren Gitter umgeben. Die "Uliza Razzakowa" ist mit alten Alleebaeumen bestanden. Ein Loch im Boden, auf dem Sandweg vor dem Botschaftszaun, ist mit dem verrosteten, harfenaehnlichen Inneren eines Klavieres abgedeckt.

Das Haus von Mr. Sabyr ist ebenfalls eine alte Villa, jedoch ist diese nicht so gepflegt wie die deutsche oder die benachbarte russische Botschaft, sondern fast vollstaendig von wildem Wein ueberwuchert. Neben dem Eingangstor wird gerade eine Art Kiosk aus Blechteilen zusammengeschweisst. Im Innenhof stehen bemalte Steine, allerlei Kunstgegenstaende und ein alter Lada. Hinter dem Haus ist ein vollkomen verwilderter Garten, und mitten im Garten steht ein alter, hoelzerner Pavillion. Vor der von Saeulen gesaeumten Eingagngstuer liegt ein Hund, ein paar Huehner laufen herum, und weiter hinter im Garten stehen ein alter Herd und eine Waescheleine.

Das Innere des Hauses in der Razzakowa, das Mr. Sabyr und seinen zwei Bruedern gehoert, zeugt von Bildung und Kultur; im Hausflur und im Treppenhaus haengen Portraets eines kirgisischen Mannes, in verschiedenen Lebensabschnitten und in verschiedener Ausfuehrung, in Oel, in Tusche und als Kreidezeichnung. Das Portraet im Treppenhaus bedeckt fast die ganze Wand. Der Mann auf den Bildern ist der Vater von Mr. Sabyr und seinen Bruedern, und wenn man Mr. Sabyr auf ihn anspricht, so antwortet er etwas zoegerlich, dass sein Vater ein sehr, sehr bekannter Schriftsteller in Kirgisien war, der allerdings nur auf kirgisisch veroeffentlicht wurde. Dies ist sein altes Haus, in dem Mr. Sabyr und seine Brueder grossgeworden sind.

Mr. Sabyr spricht sehr gutes englisch, und hat die Angewohnheit, seine Gaeste mit "Mr." und "Mrs." und dem jeweiligen Vornamen anzusprechen, wobei jedoch ein Funken Verschmitztheit mitklingt. Dementsprechend ist er ein aelterer, weisshaariger Mann mit einem gutmuetigen Gesicht und Lachfaeltchen um die Augenwinkel. Von ihm geht eine gewisse wuerdevolle, aber ungemein umgaengliche Ruhe aus. "Ah, Mr. Simon und Mr. Ian", begruesst er seine Gaeste in der Kueche zum Fruehstueck, und der Kuechentisch ist tatsaechlich ein familiaerer Mittelpunkt des Hauses.

Insgesamt gibt es vier vermietete Zimmer fuer maximal neun Gaeste. Mr. Ian und Mr. Simon sind englische Medizinstudenten, die laenger im Haus wohnen und in Bischkek arbeiten. Dann gibt es Mr. Komichiro, genannt "The Horseman", ein japanischer Hobbyarchaeologe, der seinen Job bei einer japanischen Oelfirma gekuendigt und kirgisisch gelernt hat, und nun Reiterkulturen und die zentralasiatische Falkenjagd erforscht. Dann gibt es wechselnde Gaeste, Leute die mit dem Auto aus der Schweiz gekommen sind, ein Japaner, der mit dem Fahrrad aus Moskau gekommen ist, Mr. Ken, ebenfalls Japaner, der in Bischkek an einem Musikwettbewerb fuer das traditionelle kirgisische Saiteninstrument teilgenommen hat (und danach, wie mir Mr. Sabyr verraet, aus Frustration ueber die Ignoranz der ihn auslachenden kirgisischen Zuschauer das Instrument zerrtruemmert hat), und Mr. Koji, der seit zwei Wochen hier ist und auf verschiedenste Visa fuer die obskursten Staaten in der ehemaligen Sowjetunion wartet.

Der juengere Bruder von Mr. Sabyr, etwa 50 Jahre alt, sitzt Tag ein, Tag aus in dem Pavillion und loest ein Kreuzwortraetsel. Vor ihm steht ein altes Telefon der Deutschen Bundespost, dass er mit blanken Draeten irgendwo im Haus angeschlossen hat. Hinter ihm, auf dem Gelaender des Pavillions, steht ein weiteres Sammelsorium von Telefonen verschiedenster Bauart. Er wohnt in einem Zimmer gleich links neben der Eingagngstuer. Das Zimmer ist von oben bis unten mit Geruempel, alten Telefonen und alten Radiogeraeten vollgestellt, es macht einen verwahrlosten Eindruck.

Der aeltere Bruder von Mr. Sabyr war einmal Maler, von ihm sind die meisten der Gemaelde des Vaters. Nun hat er mit seinen Freunden den verrueckten Kiosk neben dem Tor errichtet, und trinkt daher noch mehr als zuvor. Meistens ist er bereits gegen Mittag betrunken und versucht zuweilen, die Gaeste des Hauses zum Mittrinken zu bewegen. Einmal sagt Mr. Sabyr abends in der Kueche: "Sehen sie, ich habe ein Problem, nein, eigentlich zwei: mein aelterer Bruder denkt, er sei ein bedeutender Maler, aber er trinkt nur noch; und mein juenger Bruder ist - wie soll ich es sagen - seltsam."

Staendig sind Leute im Haus, Neffen und Nichten, Freunde und Bekannte, und nie ist ganz klar, ob sie im Haus wohnen oder nicht. Mr. Sabyr wohnt mit seiner Frau anscheinend in einem der Zimmer im Obergeschoss. Das Zimmer ist fast bis zur Decke mit Papier zugestapelt, das aussieht wie Manuskripte.

Tagelang versuche ich bis in das innere der usbekischen Botschaft vorzudringen, um mein Visum zu beantragen. Es gibt nichts besonderes zu tun in Bischkek, und anfangs bedrueckt mich die im Grunde immer noch sowjetische Realitaet, die allgegenwaertige Polizei, die es auf Auslaender abgesehen hat, die seltsame Leere, trotz der Baeume, der renovierten Haeuser und der Sonne wirkt die Stadt grau. Das Haus von Mr. Sabyr ist eine merkwuerdige Insel in alledem. Ein deutscher Gast, ein etwa vierzigjaehriger Koelner namens Mr. Rolf, sagt ueber das Haus, es sei hier ein wenig wie auf dem "Zauberberg" von Thomas Mann: die Zeit scheint stillzustehen, und kaum ist man gekommen, sind Jahre vergangen. Ich bleibe zehn Tage.

Ich bin mittlerweile (2. Oktober 2003) wohlbehalten in Maschad/Iran angekommen. Die Stadt ist voller iranischer Pilger, und mein sehr spartanisches Hotelzimmer letzte Nacht war unschlagbar billig, (vor allem wenn man sich den latenten Uringeruch wegdachte). Ansonsten ist die Stadt aber sehr reizvoll und erinnert mich mit ihrem geschaeftigen Chaos kurioserweise an China. Die Berge sind gelb, und Afghanistan ist nur eineinhalb Stunden mit dem Bus entfernt.

Durch die vielen Ereignisse in den vergangenen beiden Wochen, verbunden mit dem nicht unbedingt schnellen Internetzugang in der ehemaligen Sowjetunion, konnte ich leider nicht so viel schreiben wie ich gerne gewollt haette. Ich werde daher versuchen, die vergangenen zwei Wochen jetzt in etwas kuerzerer Form aufzuholen. Ein ausfuehrlicher Bericht wird aber - versprochen -nachgereicht!

Bischkek, die Hauptstadt Kirgisiens, ist eine Stadt, von der man in aller Regel, seien wir ehrlich, absolut nichts weiss. Sie ist nie in den Schlagzeilen, sie hat keine besonderen Bauwerke, und auch sonst draengt sich keinerlei Assoziation mit dem Namen auf: bei Baku mag man an Oel, bei Eriwan noch an das gleichnamige Album von Udo Lindenberg denken, selbst Taschkent sagt einem irgendetwas, aber Bischkek?

Das erste, was ich in Bischkek empfinde, ist das Gefuehl mitten in einer grossen, post-sowjetischen Depression gelandet zu sein. Die Stadt ist nicht haesslich, und mit all den grossen Allebaeumen und alten russischen Gebaeuden sogar eigentlich ganz huebsch. Aber alles ist vernachlaessigt und alles verfaellt, und die weitgehende Abwesenhenheit von neuem hat vor allem den Grund, das kein Geld da ist, um irgendetwas neues anzuschaffen. Alles stammt noch aus der Sowjet-Zeit, die Strassen, die Busse, die Haeuser, und die Uniformen der schlechtgelaunten und schlechtbezahlten Polizisten. Die Welt der alten Sowjetunion, die trotz Mangel dies alles hier geschaffen und instandgehalten hat, liegt wie unter einer duennen Schicht hinter dem Stadtbild und hinter dem neuen, jetzt kirgisischen Alltag verborgen. Was passieren soll, wenn das alles aufgebraucht ist, wenn die Busse nicht mehr zu reparieren, die Haeuser nicht mehr zu retten und die Uniformen endgueltig zerschlissen sind, weiss anscheinend niemand so recht.

Ich erwache in einem der geraeumigen, mit sowjetischen Fabrikmoebeln ausgestatteten Zimmer des Hotels "Kompleks Ibirs". Auch dieses Zimmer ist eine Schatzkammer fuer Freunde von Retro-Mode und gestickten Wandbildern. Die Korridore des "Kompleks Ibirs" erinnern vage an einen Luftschutzbunker, und die meisten Zimmer dienen laut den Tueraufschriften als Bueroraeume fuer kleine Firmen. Ich scheine der einzige Gast im "Kompleks" zu sein. Die Athmossphaere des Hotels lassen Bischkek nicht unbedingt zukunftsgerichteter erscheinen, und ich checke gegen zehn Uhr aus.

Zwei Hollaender in Osh hatten mir die Adresse eines homestays in Bischkek gegeben, also einer Art Bed & Breakfast. Die angegebene Adresse liegt etwa zwei Kilometer entfernt, anscheinend direkt gegenueber der Deutschen Botschaft in der Uliza Razzakowa. Da allerlei Geschichten ueber korrupte zentralasiatische Polizisten im Umlauf sind, die Auslaendern unter der Behauptung fehlerhafter Visa Geld abknoepfen wollen, entschliesse ich mich dazu, mit einem Taxi zu fahren. Natuerlich mag vieles davon eher Geruecht als wahr sein, aber auf der Herfahrt aus Osh wurden wir mehrfach angehalten. Die Polizisten benutzten dafuer uebrigens einen brandneuen Gegenstand, mit dem die kirgisische Polizei anscheinen erst vor kurzem ausgeruestet worden ist: eine eindrucksvolle, neonrote, innen leuchtende Kelle zum Heranwinken von Autos. Jedesmal hatte der Fahrer seufzend in die Innentasche seiner Jacke gegriffen, ein Buendel mit kirgisischen Som herausgeholt und war ausgestiegen, und hatte den Polizisten ein paar Som-Scheine fuer die neue Kelle ueberlassen. Die anderen Leute im Auto nahmen von der ganzen Angelegenheit ueberhaupt keine Notiz. Dennoch machen mich die Geschichten und die Polizisten nervoes. Ich versuche die Polizei schon von weitem zu erkennen, und fuehle eine latente Anspannung, wenn ich ueber die Strasse gehe.

Der Taxifahrer ist, wie schon sein Kollege, der mich mitten in der Nacht ins "Kompleks Ibirs" gefahren hatte, sehr freundlich und symphatisch. Er faehrt einen weinroten Ford Scorpio mit einen gelben Aufkleber fuer "25 Jahre ADAC-Mitgliedschaft".

Auf dem Parkplatz in Osh stehen etwa einhundert Autos verschiedensten Alters, die alle kleine, selbstgefertigte Pappschilder mit kirgisischen Staedtenamen hinter der Windschutzscheibe liegen haben. Die Fahrer stehen in der Einfahrt und halten Ausschau nach herannahenden Passagieren. Mit meinem roten Wanderrucksack bin ich in meinen Absichten leicht zu erkennen. Wie vermutlich ueberall auf der Welt sind auch hier die angebotenen Preise von der Groesse der Sonnenbrille abhaengig. Der guenstigste Fahrer ist schliesslich ein zurueckhaltender, sympathisch wirkender aelterer Herr, der wie viele hier in der Gegend goldueberkronte Zaehne hat und einen wirklich riesigen, glaenzend schwarzen Wolga faehrt.

Die Autos fahren natuerlich erst los, wenn sie voll sind, und da in der naechsten halben Stunde kein einziger weiterer Passagier auf dem Parkplatz auftaucht, wird klar, dass ich mich auf einen laengeren Aufenthalt einrichten muss. Mit dem einzigen anderen Passagier gehe ich in eine Art Freiluftrestaurant am Rande des Platzes, und bekommen, wie in ganz Asien ueblich, eine Kanne Tee serviert. Der andere Passagier spricht anscheinend nur usbekisch, aber selbst wenn er russisch koennte, wuerde ich mich auch nicht mit ihm unterhalten koennen. Wir sagen die Worte “Bischkek”, “Osh” und “Germanija”, sind uns einig und giessen uns gegenseitig neuen Tee nach. Einstweilen passiert auf dem Parkplatz weiterhin fast nichts. Ein paar Passagiere in andere Orte in Kirgisien tauchen auf und werden von den Fahrern bereits auf der Strasse anbgefangen. Unser Fahrer lehnt hingegen mit in paar anderen an seinem etwas abseits stehenden Wolga und betrachtet interessiert das Geschehen. Langsam wird mir klar, dass das hier wirklich sehr lange dauern wird.

Schliesslich frage ich, nach einer weiteren Kanne Tee, mit Hilfe meines kleinen Russisch-Taschenwoerterbuches den Fahrer, wann wir denn wahrscheinlich in Bischkek ankommen werden, und er antwortet: “Morgen um fuenf”. Damit meint er fuenf Uhr morgens am naechsten Tag. Da es jetzt gerade mal zehn Uhr morgens ist und unser Fahrer offenbar ein sympathischer Mensch, aber kein besonders gewitzter Geschaeftsmann ist, beschliesse ich, dass ich einen schnelleren Weg nach Bischkek finden muss.

Etwa eine halbe Stunde spaeter sitze ich auf dem Beifahrersitz eines anderen, diesmal weissen Wolga, und verlasse Osh ueber eine sehr breite, aber nur wenig befahrene Ausfallstrasse. Hinter mir sitzt Joni, ein angehender Student mit seiner Mutter, der auf dem nach Bischkek ist, um von dort aus nach Ankara zu fliegen, wo er an der “Middle Eastern Turkish University” Computer-Ingeneurswesen oder etwas aehnliches studieren wird. Er spricht sehr gut englisch und, da er ja in der Tuerkei leben wird, auch tuerkisch. In Osh war er auf einer tuerkischen Schule, die von tuerkischen “biznizmen” finanziert wird. Wir halten ausserhalb von Osh an einem kleinen Bazar, um einen weiteren Passagier abzuholen, und Joni erzaehlt mir, dass tuerkische Geschaeftsleute hier in Kirgisien und in Usbekistan sehr aktiv sind. Das erklaert auch die grosse Anzahl an deutschen Gebrauchtwagen, die auf den Strassen unterwegs sind. Je laenger wir unterwegs sind, desto mehr faellt mir auf, das tatsaechlich die Mehrheit der Autos nicht Ladas oder Wolgas, sondern alte Audi 100, Golfs und Mercedes sind. Wir warten auf den weiteren Passagier, der anscheinend noch auf dem Bazar einkauft, und ich betrachte den parkenden Audi vor uns, der einen deutschen Aufkleber auf der Heckscheibe kleben hat: “Und schon wieder ein Audi vom Autohaus Wrublewsky !”. Dahinter steht ein Transporter von der “Deutschen Asphalt Berlin”. Das ganze sieht, hier vor dem Bazar, ziemlich merkwuerdig aus.

Der vierte Passagier ist eine aeltere Frau mit buntem Kopftuch. Die meisten Leute hier unten im Ferganatal um Osh sind keine Kirgisen, sondern Usbeken. Als sowjetische Parteifunktionaere vor etwa siebzig Jahren die Grenzen der damaligen Sowjetrepubliken festlegten, vermutlich bei ein paar Flaschen Wodka, dachte kein Mensch daran, dass diese Gebilde jemals unabhaengige Staaten sein wuerden, denn dafuer sind die Grenzen vollkommen ungeeignet. Weil etwa die Strasse nach Bischkek fuer einige Kilometer ueber heute zu Usbekistan gehoerendes Gebiet fuehrt, biegen wir von der Hauptstrasse ab und folgen dem Verkehr ueber eine staubige Nebenstrasse, um das Stueck zu umgehen. Das Ferganatal, in dem Osh liegt, ist heute von den willkuerlichen, vollkommen wirren Grenzen zerteilt und gehoert heute zu Kirgisien, Usbekistan und Tadschikistan. Eisenbahnlinien verlaufen quer ueber durch die verschiedensten Laender, oftmals fuer nur wenige Kilometer, und sind dadurch fuer den normalen Verkehr praktisch unbrauchbar geworden. Manche Gebiete im Ferganatal sind nur noch ueber grosse Umwege zu erreichen.

Genauso wie das Oberrheintal ist das Ferganatal trotz seines Namens kein Tal, sondern eine grosse, flache, fruchtbare Ebene, die am Horizont von hohen Bergen begrenzt wird. Wir fahren durch kleine Doerfer mit Holzhaeusern, spielenden Kindern und Pferden, Eseln und Schafen. Die Haeuser haben bunte Fensterrahmen und sind von Obstgaerten umgeben. Es ist Erntezeit. Das Ferganatal wirkt wie eine laendliche Idylle, in der die Jahreszeiten noch eine Rolle spielen und in der die Menschen, obwohl trotz der allgegenwaertigen Wirtschaftskrise, gluecklich aussehen. In dieser Gegend spielt eine der schoensten Liebesgeschichten der Weltliteratur, naemlich das Buch “Djamilia” des kirgisischen Schriftstellers Chingis Aitmatov, und je laenger wir durch das Ferganatal fahren, desto mehr meine ich zu verstehen, warum diese Geschichte ausgerechnet aus Kirgisien kommt.

Wir halten in der Naehe von Jalalabad und essen “Osh”. Dieses “Osh” hat jedoch nicht mit der Stadt Osh zu tun, sondern ist ein grosser Berg von mit geduensteten Karotten gemischter Reis, der mit Fladenbrot, frischen Tomaten und Lamm gegessen wird. Wir sitzen auf einer wie ein Bett ausssehenden Plattform, auf der Teppiche und Kissen ausgelegt sind. Meine Mitreisenden fragen mich, ob schon einmal “Osh” gegessen habe und wie ich “Osh” denn faende. “Osh” ist das usbekische Nationalgericht, und wirklich ganz ausgezeichnet. Wir trinken dazu Unmengen Tee, und allmaehlich wird es Nachmittag. Bis Bischkek sind des noch etwa sechshundert Kilometer.

Die Berge noerdlich des Ferganatals sind hoch und nur spaerlich besiedelt. Die Ortschaften entlang der Strasse verlieren schnell jeglichen Anschein von Idylle; stattdessen sind sie verfallen, die Gebaeude wirken heruntergekommen und die wenigen Bewohner auf den Strassen gedrueckt und deprimiert. Hier gibt es keine Arbeit und keine Perspektive, sondern nur die unwirtlichen Berge und viel zu viel und viel zu billigen Wodka in den wenigen Geschaeften. Hier moechte ich nach Einbruch der Dunkelheit nicht allein unterwegs sein.

Wir ueberqueren einen Pass und erreichen einen grossen Stausee, dann noch einen Pass und dann noch einen. Die Strasse ist relativ stark befahren. Die vielen Audis und Mercedes auf den Strassen, viele noch mit dem “D”-Aufkleber, geben ein eigenartiges Bild ab und verzerren die Vorstellung von den wahren Distanzen, so als sei dies hier nicht tief in Asien, sondern ein europaeisches Nachbarland, Berlin scheint nur einen knappen Tag mit dem Auto entfernt.

Nach zwoelf Stunden naehern wir uns Bischkek. Die Vorstellung, hier allein und nachts ein bestimmtes Gasthaus zu suchen, nicht zu wissen ob dort ein Bett frei ist, ohne russisch zu koennen, und moeglicherweise der unglaublich korrupten Polizei in die Arme zu laufen ist wirklich sehr, sehr unangenehm. Alles, was ich vorerst von Bischkek sehe sind spaerlich beleuchtete, baumbestandene Strassen, es ist wirklich dunkel, so wie frueher in Ost-Berlin.

Der Service im “Hotel Sara”, einer alten russischen Villa im Stadtzentrum von Osh, ist eindeutig sowjetisch. Die Dame von der Rezeption, die den Charme eines Panzerkommandanten verstroemt, weckt mich morgens um acht mit heftigem Klopfen an der Tuer und den russischen Worten “ADMINISTRATOR !!”. Da ich noch kein Geld getauscht und somit noch nicht gezahlt habe, fuerchtet sie, ich wuerde mich einfach so aus dem Staube machen. Mit dem kirgisischen Gefolgsmann des Pastors, der uebersetzt, mache ich mich auf den Weg zu einer Wechselstube in der selben Strasse. Dann essen wir zum Fruehstueg einen kirgisischen Laghman, der jedoch ebenfalls eindeutig russisch ist: statt scharfer Gewuerze enthaelt er Kartoffeln, Quark und Dill. Nach der Busfahrt kann ich mich nicht dazu begeistern, schon wieder zwoelf Stunden zu fahren, ausserdem will ich mich ja von der Gruppe im Bus trennen. Die beiden Japaner und die Kirchenleute der “Greater Grace Church” machen sich auf den Weg, und ich bleibe in Osh.

Der Uebergang von China zu Europa ist abupt. Ich gehe ueber den Bazar, der viel kleiner als der Bazar in Kashgar ist, und gehe durch die birkenbestandene Haupstrasse in Osh, und befinde mich in einer osteuropaeischen Stadt, obwohl diese auf der gleichen Laenge mit Westindien liegt. Der Wechsel ist nur schwer zu fassen: ich bin nicht in einer fuer mich irgendwie bekannten, westlichen Umgebung gelandet, sondern in einer anderen, wiederum in sich abgeschlossenen Weltgegend, in der die Zeit offenbar langsamer vergangen ist als anderswo. Einer der ueberall in Kiosken verkauften wenigen westlichen Produkten ist “Fanta”, die jedoch hier in denselben gerippten Glasflaschen angeboten wird, die in Deutschland Ende der Achtziger Jahre aus den Laeden verschwunden und offenbar alle hierher gebracht worden sind, die Flaschen sind abgewetzt und alt. Ueberhaupt ist alles alt: die alten russischen Autos, die nach ausgelaufenem Benzin und Zweitakt-Motor riechen, die Siebziger Jahre Kleidung der Passanten, die alten Haeuser, die verfallenden Strassen, das verkommende Lenin-Denkmal. Ein zwanzig Jahre alter Bus faehrt die Strasse entlang, auf dessen Seiten “Jaegermeister” steht und der als Fahrtziel auf deutsch “Stelen, S-Bahn” angibt.

Das alles ist so seltsam, so unerwartet und auf kuriose Weise gleichzeitig auch so vertraut, dass ich nicht weiss, ob ich Osh und die alte sowjetische Welt enttaeuschend oder aufregend finden soll. Unter Zentralasien hatte ich mir vage orientalische, muslimische Laender vorgestellt, aber hier in Osh bin ich in einem grossen, animierten Ostblock-Museum gelandet. Ich gehe in das Café an der Haupstrasse und bestellte noch einen Laghman, weil ich ueberhaupt nicht weiss, was ich den ganzen Tag in Osh anfangen soll. Ich bin vollkommen ratlos. Vielleicht bleibe ich hier einfach sitzen und schaue mir das alles an. Damit hatte ich nicht gerechnet, zumindest nicht hier, so weit im Osten, nur ein paar Busstunden von China entfernt.

Am naechsten Morgen mache ich mich auf den Weg zu dem Parkplatz, auf dem die Autos nach Bischkek abfahren. Die Fahrt soll etwa zwoelf Stunden dauern und etwas mehr als zehn US-Dollar kosten.

 

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