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Der Nachtzug aus Bukarest erreicht Budapest morgens um sieben. In der Nacht habe ich ein letztes mal die Zeit umgestellt: nun bin ich, was die Zeitzone anbetrifft, bereits am Ziel. Budapest erscheint mir wie eine letzte Durchgangsstation, die ich aufgrund dessen, was hinter mir liegt und wegen seiner Nähe zu Berlin nicht angemessen würdigen kann. Es ist ein bisschen wie der Moment, in dem die Marathonläufer in das Stadion einlaufen, um die letzte Runde anzutreten. Morgen nachmittag möchte ich bereits in Prag sein.

Mit der Hilfe von Peters Schwester Angela, die zur Zeit in Budapest wohnt und mit der ich zusammen den Nachtzug genommen hatte, frage ich in dem blitzsauberen „Keleti-pu.“-Bahnhof nach den Abfahrtszeiten der Züge nach Prag für den nächsten Tag. Dann nehmen wir die U-Bahn bis zu ihrer Wohnung gleich hinter dem ungarischen Parlament. Die Strassen in diesem Teil von Budapest sind noch sauberer als der Bahnhof. Alles kommt mir so unglaublich sauber und aufgeräumt vor, dass ich zu dem Schluss komme, dass an meiner Wahrnehmung etwas nicht stimmen kann. Ich frage Angela, ob sie die Strassen, durch die wir gehen, ebenso sauber findet, und sie sagt, in Deutschland sei alles noch viel sauberer. Kein Zweifel: nach zwei Monaten in China und Zentralasien hat sich mein Begriff von Sauberkeit deutlich verschoben. Vermutlich werde ich Berlin jetzt als einen Ort geradezu beängstigender Reinlichkeit empfinden. Wie es ist, wieder in München oder Freiburg zu sein, wage ich mir gar nicht vorzustellen.

Die Wohnung liegt in einem alten Mietshaus, das genauso aussieht wie die Mietshäuser in Wien. Im Hausflur unterhalten sich zwei gutgelaunte ältere Damen über den Gang der Dinge, leider auf ungarisch, so dass ich nichts verstehen kann. Angela erzählt mir, dass sie Budapest unter anderem deswegen so liebt, weil sich hier die alten Leute ein schöne Zeit zu machen verstehen und das Leben gemeinsam geniessen, anstatt den ganzen Tag allein in der Wohnung zu sitzen. Tatsächlich kann ich mir nicht vorstellen, von diesen beiden freundlichen alten Damen jemals einen vollen Einkaufswagen in den Rücken gerammt zu bekommen, so wie mir das in Berliner „Penny“-Supermärkten regelmäßig passiert war. Der Gedanke an verbiesterte Berliner Rentner ist hier, in dieser schönen Stadt, nicht besonders erheiternd. Dabei wird mir klar, dass ich im Grunde überhaupt keine Vorstellung davon habe, wie es sein wird, nach über einem Jahr Abwesenheit aus Europa wieder in Berlin zu leben. Jetzt sind es nur noch zwei Tage, die mich von Deutschland trennen.

Das einzige, was ich in Budapest machen will, ist in eines der berühmten Budapester Thermalbäder zu gehen und, sozusagen als ein symbolischer Abschluss der Reise, ein ausgiebiges Bad zu nehmen. Ausserdem war ich erst in Bukarest erstmals wieder auf eine Dusche mit zuverlässig funktionierendem Warmwasser gestoßen, und kann mir wenig schöneres Vorstellen, als stundenlang in heißem Wasser zu sitzen und über die vergangene Reise zu sinnieren. Ausserdem möchte ich diese berühmten alten Männer sehen, die den ganzen Tag im Thermalbad zubringen und Schach spielen. Der richtige Ort hierfür sei, so hatte ich in Erfahrung gebracht, nicht etwa die berühmte Badeanstalt „Gellert“, sondern das etwas unbekanntere, aber mindestens genauso schöne Széchenyi-Bad.

Vor der Kasse des -Bades steht eine geduldige lange Schlange von zumeist Budapester Rentnern, die alle Dauerkarten in der Hand haben. Neben dem Kassenhäuschen hängt eine Preisliste mit verwirrend vielen verschiedenen Einzelleistungen. Zum Glück gibt es jedoch auch ein Standard-Programm, dass einem Eintritt in alle verschiedenen Bäder des Széchenyi verschafft.

Das Bad ist von aussen wie von innen in dem schnörkeligen, ausladenden Geist des späten neunzehnten Jahrhunderts erbaut worden und erinnert mich an das „Müllersche Volksbad“ in München, bloß dass das Széchenyi-Bad zehnmal so groß und ein ganz normales Bad ohne Museums-Allüren ist. Meine Sachen lasse ich in einem alten Holzspind, auf den ein beleibter, weissgekleideter Bademeister mit einem Stück Kreide eine Nummer schreibt, die ich mir merken soll. Das erste Bad ist ein römisch aussehendes Gewölbe, in dem sich ein Becken mit grünlichem Wasser befindet, das leichte Schwefeldämpfe verbreitet. Das ganze sieht ungeheuer heiss und gesund aus. Am Rand des Beckens stehen alle möglichen Leute bis zum Hals im Wasser und treten ab und zu von einem Fuss auf den anderen. Ich stelle mich dazu und schaue, so wie alle anderen auch, den Leuten zu, die nach uns über die elegante Treppe ins Wasser steigen. Insgesamt gibt es etwa zehn solcher Becken in verschiedenen Räumen, manche mit unerträglich heißem und manche mit eiskaltem Wasser. Viele Badegäste sind bereits im Rentenalter, und da es unmöglich ist, sich in dieser Umgebung nicht wohlzufühlen, wirken die ergrauten und oftmals beleibten Badenden nicht etwa verbiestert, sondern würdevoll und wie großartige Charakterköpfe in einer wunderschönen Kulisse. Plötzlich verstehe ich auch, warum am Eingang des Bades auf grossen Schildern extra auf das Film- und Fotografierverbot hingewiesen wird.

Im Innenhof des Bades befindet sich schließlich das grosse, geschwungene Becken, in dem die Schachspieler stehen. Anders als im Inneren ist das Wasser hier nicht schwefelig, und das Becken ist mit leuchtend blauen Kacheln ausgelegt. Die Schachbretter befinden sich auf zwei kleinen Mäuerchen, die wie ein Tresen in das Becken hineingebaut sind. Die Schachspieler stehen bis knapp zu den Schultern im Wasser, und weil es ein ziemlich kalter Tag ist, tauchen die Schachspieler und die Zuschauer manchmal kurz unter, wenn es an der Luft zu kalt geworden ist. In der kalten Luft dampft das heisse Wasser und taucht das Becken in einen leichten Nebel. So wie die Spieler selbst schauen auch die Zuschauer, die in einer Traube um die Spieler herumstehen, angestrengt auf die Partien und kneten sich dabei gedankenverloren die Lippen. Weil die Luft so kalt ist, tragen zwei der Spieler Stoffmützen. Das Wasser hingegen fühlt sich auch nach Stunden noch heiß und angenehm an.

Am Nachmittag wandere ich über die Donaubrücke hinauf zur Residenz. Es ist ein grauer, mitteleuropäischer Herbsttag, an dem es niemals richtig hell wird. Trotzdem ist die Stadt geradezu überwältigend schön. Abends gehen Angela und ich in den Film „Kill Bill“ und danach in einen britischen Pub, in dem englischer Fussball läuft, aber ich kann mir immer noch nicht vorstellen, jetzt schon so nah am Ziel zu sein. Nicht jetzt, und nicht hier in Budapest.
 

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