Chongqing ist, wie ich bei der Ankunft merke, ein gigantischer post-sozialistischer Alptraum in Beton und Neon. Die Luftverschmutzung ist unbeschreiblich und scheint noch staerker als in Peking zu sein: auch nur einen Kilometer entfernte, vermutlich gestern fertiggestellte Hochhaustuerme sind in der Dunkelheit nur umrisshaft durch den Dunst zu erkennen. Dazwischen blinken Neonschriftzeichen und Werbetafeln, alles erinnert aus der Ferne an einen Science Fiction Film eher weniger erheiternden Inhaltes. Willkommen im neuen China.
Ein Taxifahrer bringt mich, ohne groessere Umwege zu fahren, in das Huxianlou Hotel in der Innenstadt. Es liegt in der neugestalteten Fussgaengerzone und ist eigentlich recht freundlich. Als ich an der Rezeption nach dem in meinem Reisefuehrer beschriebenen Nachtmarkt frage, treffe ich einen jungen Kanadier namens Richard, und wir machen uns gemeinsam auf die Suche nach Nachtmarkt und - endlich - einem Abendessen.
Der Nachtmarkt musste offenbar der brandneuen Fussgaengerzone weichen, dennoch finden sich in der "8-1-Strasse", parallel zur Hauptstrasse, noch ein paar Staende. Das Essen ist typisch szechuanesich mit viel Chili und wirklich ausgezeichnet. Wir trinken dazu ein Chongqing-Beer, und dabei erzaehlt Richard ueber seine Studie ueber die Auswirkungen des von Chongqing Jangste-abwaerts liegenden Drei-Schluchten-Staudammes, den er wenige Tage zuvor im Rahmen einer fuer ihn von seiner Universitaet in Toronto arrangierten Besichtigung besichtigt hat. Die Fakten sind, ihm zufolge, absolut schockierend.
Die bereits armtiefen Risse in der Staumauer sind angesichts der Wandstaerke, 150 (!) Meter am Fundament und 100 Meter an der Dammkrone, wohl noch hinnehmbar. Weniger beruhigend ist da schon eher der Umstand, dass der Damm mehr oder weniger direkt auf einer tektonischen Bruchlinie und damit mitten in einem Erdbebengebiet steht. Bricht der Damm, so geht das Planspiel, sterben bereits in den ersten zehn Minuten zehntausend Menschen in den Wassermassen, deren Oberflaeche, so Richard, der Groesse Taiwans entspricht. Die den dann den Jangste hinabspuelende Welle erreicht und zerstoert schliesslich Shanghai. Angeblich haben alle entsprechende "missiles" besitzende Atommaechte bereits fuer den Fall der Faelle ein paar neue Zielcodes ins Programm und damit den Damm ins Visier genommen, und die taiwanesische Regierung laesst angeblich gegenueber Peking verlauten, im Kriegsfalle wuerde es zumindest ein Flugzeug bis an die Dammwand schaffen. Schaurig. Viel unmittelbarer sind jedoch sie unmittelbaren Folgen der fast beendeten Flutung: Millionen von ehemaligen Flussanwohnern sind umgesiedelt worden, und viele von ihnen landen hier in Chongqing, dem industriellen Zentrum am Oberlauf des Jangste. Ploetzlich verstehe ich auch, warum so viele Bettler in den Strassen zu sehen sind.
Trotz aller duesterer Aussichten ist die Fussgaengerzone aber ein angenehmer Ort zum Sitzen. Nach dem Essen wechseln wir hinueber in eine Art Strassencafe und treffen dort auf ein paar Auslaender, zwei Englaender und ein Amerikaner, bei einer "drinking session". Auch hier geht es, wie anscheinend ueberall in Chonqing, um den Damm. Der Amerikaner kommt aus Santa Barbara und arbeitet in Chongqing fuer den "Discovery Channel", die beiden aelteren Englaender sind Englischlehrer und wirken ein bisschen gestrandet in Chongqing. Kein Vergleich zu Bangkok, erzaehlt der eine mir, kein Vergleich. Dieses Cafe sei das Zentrum des nightlife in Chongqing, immerhin einer Stadt mit zehn Millionen Einwohnern, und wir sind mitten drin. Die Stimmung ist jedoch unbestrittenermassen grossartig, zmindest heute abend.
Auf dem Rueckweg gegen halb zwei kommen wir an einem Laden der Hong Konger Kleidungskette "Baleano" - einer Art H&M - vorbei, indem gerade eine Putzkolonne saubermacht. Spontan kaufen wir ein paar Hemden, die im Sonderangebot sind, und bezahlen bei der Putzkolonne. Nicht ganz klar ist, ob die Putzkolonne die Hemden jetzt - rein technisch gesehen - geklaut hat, zumal ja alle anderen Geschaefte in der Fussgaengerzone schon seit Stunden geschlossen haben. Aber sie packen es zumindest ordentlich in Baleano-Tueten und wuenschen uns noch einen schoenen Abend.
Am naechsten Morgen erwache ich mit Kopfschmerzen, wahrscheinlich verursacht durch eine teuflische Mischung aus Chongqing-Beer und Chongqing-Air. Trotzdem haelt meine Hoch- und Reisestimmung an. Draussen ist alles grau, am Fenster steht einer der anderen Gaeste des Achtbettzimmers und starrt, zumindest scheint es so, fassungslos in den verschmutzten grauen Himmel ueber der Stadt.
Nach einem etwas freudlosen, aber im Preis inbegriffenen Hotelfruehstueck beschliesse ich ein paar Sachen einzukaufen, da es draussen leicht regnet und es daher nicht zum herumlaufen einlaedt.
Auf dem Weg durch die Fussgaengerzone haenge ich der alten Frage nach, was eigentlich an China so faszinierend ist, da das Land zu bereisen ungeheuer anstrengend und mitunter frustrierend ist. Ploetzlich werde ich von einem freundlichen, aelteren Mann angehalten, der ein paar Schritte auf mich zugelaufen kommt und dabei "Sorry, Sorry" ruft. Er haelt mir einen Zettel unter die Nase, auf dem die Worte "Mike Tyson" und "Evander Hollyfield" stehen. "Ho-li-fiel-te?" liest er angestrengt und schaut mich fragend an. "Ho-li-fi-te??"
Wegen des Regens habe ich beschlossen, spaeter am Nachmittag den Bus nach Chengdu zunehmen. Gegen Mittag hoert der Regen jedoch auf, und ich verlasse die Fussgaengerzone. Nach ein paar hundert Metern finden sich alte, baumbestandene Strassen mit flachen Haeusern, das alte Chongqing. Hier ist noch der alte, fast doerfliche Charme alter chinesischer Staedte zu finden, mit kleinen Laeden, Handwerksgeschaeften und Garkuechen.
Chongqing liegt am Zusammenfluss zwischen dem Jialing-Fluss und dem Jangste, und das Zentrum liegt auf einer bergigen Halbinsel hoch zwischen den beiden Fluessen. Auf meiner Karte ist nicht weit vom Hotel eine Seilbahn ueber den Jangste eingezeichnet.
Die Seilbahn, so stellt sich wenig spaeter heraus, ist eine alte Bahn mit zwei Gondeln, so wie in den Alpen. Der Eingang liegt etwas versteckt zwischen Wohnhaeusern. Die Station ist alt und ist etwas verblasst, aber mit schoenen alten schmiedeeisernen Balkongittern versehen, im Innenhof hinter dem Eingang stehen Blumen und ein kleiner Holzkaefig mit Kanarienvoegeln. Aus irgendeinem Grund stelle ich mir vor, dass es in Lissabon so aehnlich aussieht wie hier. Ein dunkles Treppenhaus fuehrt an den Bahnsteig, von dem man aus einen Blick auf den tief unten liegenden Jangste und das andere Ufer hat, das fast im Dunst verschwindet. Nur ein paar schweigsame aeltere Maenner rauchen Zigaretten und warten auf die Bahn. Vor dem Balkongitter steht eine kleine Zementwanne mit Goldfischen darin.
Am anderen Ufer endet die Bahn mitten in einem verfallenden, gruenen Wohngebiet. Der Blick von hier, und die ganze Athmossphaere, sind absolut surreal: die Strassen sind leer und es ist fast still, nur die Schiffe untem am Jangtse tuckern monoton hinauf. Der unfassbar verschmutzte Himmel ist gelb und taucht alles in ein gelblich-fahles Licht. Hinter der alten Station steht ein alter, schiefer, niedriger Fabrikschlot zwischen wild wachsenden Baeumen. Alle Haeuser ausser der verblassenden Station sind grau, vor den Fenstern haengen Waesche und vereinzelt Vogelkaefige. Der Fluss, tief unten, ist unglaublich breit, braun, und die Ufer sind von Muell gesaeumt. Ein einzelner Angler mit einem Strohhut sitzt am Wasser. Auf der anderen Seite liegt, getruebt durch die Luft, das Zentrum von Chongqing hoch auf dem Berg; es sieht fast wie eine Festungsstadt aus. Aus ihr ragen Hochhaeuser mit runden Ufo-artigen Aufsaetzen und Antennenmasten.
In der Station mache ich ein Foto von einem alten Mann und seinen beiden Enkeln, und dann fotografiert jemand anders die beiden Kinder und mich. Wir warten auf die Bahn zurueck. Ein juengerer Mann in einem Trainingsanzug kann etwas Englisch, und er brennt darauf, seine Sprachkenntnisse mal in einer echten Situation auszuprobieren. "Deutschland - sehr entwickeltes Land", sagt er. "China nicht so entwickeltes Land. China hat noch einen langen Weg zu gehen".
Gegen vier Uhr nehme ich den Bus nach Chengdu.
Ein Taxifahrer bringt mich, ohne groessere Umwege zu fahren, in das Huxianlou Hotel in der Innenstadt. Es liegt in der neugestalteten Fussgaengerzone und ist eigentlich recht freundlich. Als ich an der Rezeption nach dem in meinem Reisefuehrer beschriebenen Nachtmarkt frage, treffe ich einen jungen Kanadier namens Richard, und wir machen uns gemeinsam auf die Suche nach Nachtmarkt und - endlich - einem Abendessen.
Der Nachtmarkt musste offenbar der brandneuen Fussgaengerzone weichen, dennoch finden sich in der "8-1-Strasse", parallel zur Hauptstrasse, noch ein paar Staende. Das Essen ist typisch szechuanesich mit viel Chili und wirklich ausgezeichnet. Wir trinken dazu ein Chongqing-Beer, und dabei erzaehlt Richard ueber seine Studie ueber die Auswirkungen des von Chongqing Jangste-abwaerts liegenden Drei-Schluchten-Staudammes, den er wenige Tage zuvor im Rahmen einer fuer ihn von seiner Universitaet in Toronto arrangierten Besichtigung besichtigt hat. Die Fakten sind, ihm zufolge, absolut schockierend.
Die bereits armtiefen Risse in der Staumauer sind angesichts der Wandstaerke, 150 (!) Meter am Fundament und 100 Meter an der Dammkrone, wohl noch hinnehmbar. Weniger beruhigend ist da schon eher der Umstand, dass der Damm mehr oder weniger direkt auf einer tektonischen Bruchlinie und damit mitten in einem Erdbebengebiet steht. Bricht der Damm, so geht das Planspiel, sterben bereits in den ersten zehn Minuten zehntausend Menschen in den Wassermassen, deren Oberflaeche, so Richard, der Groesse Taiwans entspricht. Die den dann den Jangste hinabspuelende Welle erreicht und zerstoert schliesslich Shanghai. Angeblich haben alle entsprechende "missiles" besitzende Atommaechte bereits fuer den Fall der Faelle ein paar neue Zielcodes ins Programm und damit den Damm ins Visier genommen, und die taiwanesische Regierung laesst angeblich gegenueber Peking verlauten, im Kriegsfalle wuerde es zumindest ein Flugzeug bis an die Dammwand schaffen. Schaurig. Viel unmittelbarer sind jedoch sie unmittelbaren Folgen der fast beendeten Flutung: Millionen von ehemaligen Flussanwohnern sind umgesiedelt worden, und viele von ihnen landen hier in Chongqing, dem industriellen Zentrum am Oberlauf des Jangste. Ploetzlich verstehe ich auch, warum so viele Bettler in den Strassen zu sehen sind.
Trotz aller duesterer Aussichten ist die Fussgaengerzone aber ein angenehmer Ort zum Sitzen. Nach dem Essen wechseln wir hinueber in eine Art Strassencafe und treffen dort auf ein paar Auslaender, zwei Englaender und ein Amerikaner, bei einer "drinking session". Auch hier geht es, wie anscheinend ueberall in Chonqing, um den Damm. Der Amerikaner kommt aus Santa Barbara und arbeitet in Chongqing fuer den "Discovery Channel", die beiden aelteren Englaender sind Englischlehrer und wirken ein bisschen gestrandet in Chongqing. Kein Vergleich zu Bangkok, erzaehlt der eine mir, kein Vergleich. Dieses Cafe sei das Zentrum des nightlife in Chongqing, immerhin einer Stadt mit zehn Millionen Einwohnern, und wir sind mitten drin. Die Stimmung ist jedoch unbestrittenermassen grossartig, zmindest heute abend.
Auf dem Rueckweg gegen halb zwei kommen wir an einem Laden der Hong Konger Kleidungskette "Baleano" - einer Art H&M - vorbei, indem gerade eine Putzkolonne saubermacht. Spontan kaufen wir ein paar Hemden, die im Sonderangebot sind, und bezahlen bei der Putzkolonne. Nicht ganz klar ist, ob die Putzkolonne die Hemden jetzt - rein technisch gesehen - geklaut hat, zumal ja alle anderen Geschaefte in der Fussgaengerzone schon seit Stunden geschlossen haben. Aber sie packen es zumindest ordentlich in Baleano-Tueten und wuenschen uns noch einen schoenen Abend.
Am naechsten Morgen erwache ich mit Kopfschmerzen, wahrscheinlich verursacht durch eine teuflische Mischung aus Chongqing-Beer und Chongqing-Air. Trotzdem haelt meine Hoch- und Reisestimmung an. Draussen ist alles grau, am Fenster steht einer der anderen Gaeste des Achtbettzimmers und starrt, zumindest scheint es so, fassungslos in den verschmutzten grauen Himmel ueber der Stadt.
Nach einem etwas freudlosen, aber im Preis inbegriffenen Hotelfruehstueck beschliesse ich ein paar Sachen einzukaufen, da es draussen leicht regnet und es daher nicht zum herumlaufen einlaedt.
Auf dem Weg durch die Fussgaengerzone haenge ich der alten Frage nach, was eigentlich an China so faszinierend ist, da das Land zu bereisen ungeheuer anstrengend und mitunter frustrierend ist. Ploetzlich werde ich von einem freundlichen, aelteren Mann angehalten, der ein paar Schritte auf mich zugelaufen kommt und dabei "Sorry, Sorry" ruft. Er haelt mir einen Zettel unter die Nase, auf dem die Worte "Mike Tyson" und "Evander Hollyfield" stehen. "Ho-li-fiel-te?" liest er angestrengt und schaut mich fragend an. "Ho-li-fi-te??"
Wegen des Regens habe ich beschlossen, spaeter am Nachmittag den Bus nach Chengdu zunehmen. Gegen Mittag hoert der Regen jedoch auf, und ich verlasse die Fussgaengerzone. Nach ein paar hundert Metern finden sich alte, baumbestandene Strassen mit flachen Haeusern, das alte Chongqing. Hier ist noch der alte, fast doerfliche Charme alter chinesischer Staedte zu finden, mit kleinen Laeden, Handwerksgeschaeften und Garkuechen.
Chongqing liegt am Zusammenfluss zwischen dem Jialing-Fluss und dem Jangste, und das Zentrum liegt auf einer bergigen Halbinsel hoch zwischen den beiden Fluessen. Auf meiner Karte ist nicht weit vom Hotel eine Seilbahn ueber den Jangste eingezeichnet.
Die Seilbahn, so stellt sich wenig spaeter heraus, ist eine alte Bahn mit zwei Gondeln, so wie in den Alpen. Der Eingang liegt etwas versteckt zwischen Wohnhaeusern. Die Station ist alt und ist etwas verblasst, aber mit schoenen alten schmiedeeisernen Balkongittern versehen, im Innenhof hinter dem Eingang stehen Blumen und ein kleiner Holzkaefig mit Kanarienvoegeln. Aus irgendeinem Grund stelle ich mir vor, dass es in Lissabon so aehnlich aussieht wie hier. Ein dunkles Treppenhaus fuehrt an den Bahnsteig, von dem man aus einen Blick auf den tief unten liegenden Jangste und das andere Ufer hat, das fast im Dunst verschwindet. Nur ein paar schweigsame aeltere Maenner rauchen Zigaretten und warten auf die Bahn. Vor dem Balkongitter steht eine kleine Zementwanne mit Goldfischen darin.
Am anderen Ufer endet die Bahn mitten in einem verfallenden, gruenen Wohngebiet. Der Blick von hier, und die ganze Athmossphaere, sind absolut surreal: die Strassen sind leer und es ist fast still, nur die Schiffe untem am Jangtse tuckern monoton hinauf. Der unfassbar verschmutzte Himmel ist gelb und taucht alles in ein gelblich-fahles Licht. Hinter der alten Station steht ein alter, schiefer, niedriger Fabrikschlot zwischen wild wachsenden Baeumen. Alle Haeuser ausser der verblassenden Station sind grau, vor den Fenstern haengen Waesche und vereinzelt Vogelkaefige. Der Fluss, tief unten, ist unglaublich breit, braun, und die Ufer sind von Muell gesaeumt. Ein einzelner Angler mit einem Strohhut sitzt am Wasser. Auf der anderen Seite liegt, getruebt durch die Luft, das Zentrum von Chongqing hoch auf dem Berg; es sieht fast wie eine Festungsstadt aus. Aus ihr ragen Hochhaeuser mit runden Ufo-artigen Aufsaetzen und Antennenmasten.
In der Station mache ich ein Foto von einem alten Mann und seinen beiden Enkeln, und dann fotografiert jemand anders die beiden Kinder und mich. Wir warten auf die Bahn zurueck. Ein juengerer Mann in einem Trainingsanzug kann etwas Englisch, und er brennt darauf, seine Sprachkenntnisse mal in einer echten Situation auszuprobieren. "Deutschland - sehr entwickeltes Land", sagt er. "China nicht so entwickeltes Land. China hat noch einen langen Weg zu gehen".
Gegen vier Uhr nehme ich den Bus nach Chengdu.
kowloonkreuzberg - am Samstag, 16. August 2003, 16:48