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Der Zug nach Lanzhou, dem oestlichen Ende der Seidenstrasse, verlaesst Chengdu um zwei Uhr mittags und braucht genau einen Tag. Nach einigen Stunden haben wir die Ebene von Sichuan verlassen, die Landschaft wird immer bergiger und wird gegen Abend fast alpin. Die Fluesse bekommen allmaehlich wieder natuerliche Farben, und die wenigen, grauen Siedlungen druecken sich an die Flussufer oder an das Bahngleis.

Am naechsten Morgen geht die Sonne mit einem klaren und unverkennbar noerdlichen Licht auf; hier wird mir klar, wie weit ich mich raeumlich bereits vom halbtropischen Hong Kong entfernt habe. Das noerdliche Licht laesst alles blauer, klarer, haerter und kontrastreicher erscheinen als in Suedchina, und aus irgendeinem Grund wirkt dies auch chinesischer als das warme tropische Licht im Sueden. Die Haeuser haben klassische chinesische Daecher mit kleinen Drachenfiguren an den Giebelenden und sind aus dem Lehm der Gegend erbaut. Lanzhou selbst liegt schliesslich in einem langestreckten Tal, durch das sich der Gelbe Fluss zieht, der hier, soweit im Westen, noch relativ klein ist.

Ich ueberquere den Bahnhofsvorplatz zum "Lanzhou Fazha"-Hotel, einem der ueblichen grossen, etwas nachlaessig betriebenen Hotels an chinesischen Bahnhoefen. Der Bahnhofsvorplatz in Lanzhou wirkt klein, uebersichtlich und fast schon vertrauenserweckend, im krassen Gegensatz zu seinen Kollegen in Guangzhou oder Chengdu.

Im "Fazha" treffe ich Tim, einen jungen englischen Journalisten, der fuer einige Monate in Peking fuer die "China Daily", Chinas englischsprachiges Parteiorgan arbeiten wird, und vor Arbeitsbeginn eine Reise nach Westchina unternimmt.

Obwohl die ueblichen Reisefuehrer Lanzhou eher nur als notwendige Durchgangsstation zu den ueblichen touristischen Zielen wie dem westlichen Ende der chinesischen Mauer beschreibt, hat die Stadt unzweifelhaft einen gewissen Charme, der vielen anderen Staedten in China fehlt. Die breiten, staubigen Strassen sind von Baeumen gesaeumt, die destruktive, ufo-artige Hochhaeuser hervorbringende Bauwut ist bisher ausgeblieben, und die Bewohner sind freundlich und gelassen. Alles hat schon einen unverkennbar muslimischen Einschlag, viele tragen tuerkisch aussehende Wollmuetzen, und es gibt ueberall Fladenbrot zu kaufen. Die Stadt laesst bereits die Naehe zur Wueste erahnen: alles ist gelb und ein bisschen sandig. Ich mag Lanzhou eigentlich sofort.

Im Buero von "China Eastern Airlines", in dem sich Tim ein Flugticket von Dunhuang, einer fuenfzehn Stunden entfernten Wuestenoase zurueck nach Peking buchen will, ereignet sich eine klassische chinesische Verkaufsszene:

T: Kann ich das Ticket mit Kreditkarte bezahlen?
China Eastern: Nein, das geht nicht.
T: Visa-Card?
CE: Nein.
T: Ich habe aber kein Bargeld dabei?
CE: Dann muessen Sie zur Bank gehen. Die hat jetzt schon geschlossen.
T: Wann macht die Bank morgen auf? Ich nehme morgen schon um 9:30 Uhr einen Zug nach Dunhuang.
CE: Die Bank macht morgen um zehn auf.
T: Kann ich das Ticket dann vielleicht reservieren und dann uebermorgen in Dunhuang abholen?
CE: Nein, das ist unmoeglich. Das geht nur hier.
T: Das heisst, ich kann das Ticket nur hier bezahlen?
CE: Ja.
T: Kann ich das Ticket also nicht hier reservieren, dann mit der Reservierung in Dunhuang zu "China Eastern Airlines" gehen und dort bezahlen? Wo doch nur noch drei Plaetze im Flugzeug frei sind?
CE: Nein, das geht nicht. Unmoeglich.
T: Das heisst, ich kann das Ticket jetzt nicht bezahlen?
CE (freundlich und bestimmt): Sie koennen das Ticket nur hier in Lanzhou bezahlen.
T: (wiederholt)
CE: (wiederholt)
T: ...
CE: ...
T: Hmm...
CE (schweigt)
T (etwas verzweifelt, zeigt CE die bereits bezahlte Fahrkarte nach Dunhuang fuer den naechsten Morgen): Ich habe schon diese Fahrkarte, die ich nicht mehr umtauschen kann. Es gibt nur noch drei Plaetze im Flugzeug. Ich kann hier in Lanzhou kein Geld bekommen, weil alle Banken geschlossen haben. Koennen sie nicht das Ticket reservieren, und ich es dann in Dunhuang abholen und bezahlen?
CE: Einen Moment - (tippt etwas in ihren Computer, druckt etwas aus, wendet sich nach dreissig Sekunden wieder T zu) Nehmen Sie diesen Zettel, gehen sie damit zu unserem Buero in Dunhuang und bezahlen, die stellen ihnen dann das Ticket aus - ja, die Reservierung gilt verbindlich ab sofort - nein, es kostet nicht mehr...

Lanzhou hat keine Sehenswuerdigkeiten im klassischen Sinne von Tempeln oder Moscheen zu bieten, verfuegt dennoch aber ueber einige Attraktionen. Zu ihnen zaehlt in erster Linie der Besuch des sagenhaft trashigen sozialistischen Vergnuegungsparks auf einem der Berge ueber der Stadt.

Man erreicht den Vergnuegungspark mit einem relativ neuen Sessellift, von dem man eine phantastische Aussicht ueber die Stadt hat. Die Talstation ist relativ schwer und nur durch Herumfragen zu finden und wird durch ein Labyrinth von kleinen, betriebsamen Gassen von der Hauptstrasse abgeschirmt. Wir erreichen die Station schliesslich etwa eine dreiviertelstunde vor Sonnenuntergang.

Genau auf dem Gipfel des Berges steht eine alte, dreistoeckige Pagode. Von ihr ist der Ausblick spektakulaer: der westliche Horizont ist bereits tieforange, und der Gelbe Fluss zieht sich als gleissendes Band, von wuestenhaften Bergen umgeben, bis hinter den westlichen Horizont. Hier ist, ploetzlich plastisch sichtbar, wirklich der Beginn der alten Seidenstrasse.

So kurz vor Sonnenuntergang und an einem Montag abend ist der Vergnuegungspark fast leer. Am Eingang gruessen ein riesiger Kosmonaut aus Beton und etwa ein Dutzend Leute, die vor Betriebsschluss schnell noch ein paar Trips auf ihrem Kamel verkaufen wollen. Wir lehnen dankend ab und schauen uns die hellrosa Comic-Interpretation von Schloss Neuschwanstein an, die um diese Tageszeit und an diesem Ort hier ganz besonders fremdartig wirkt. Wir sind fast die letzten Gaeste. Ausser dem Schloss und dem Kosmonauten gibt es ein kleines Riesenrad, eine Rodelbahn und ein Karussell mit Raumschiffen, die jedoch alle schon geschlossen haben. Mitten in einem nahen Geroellfeld stehen, beschienen von der untergehenden Wuestensonne, zwei kaputte Billiardtische und ein paar rostige Schaukeln. Aus den ueberall im Park aufgestellten Lautsprechern, die genauso so ausehen, als seien sie frueher zum Abspielen von Mao-Slogans verwendet worden, ertoent jetzt russisch klingender Tekno. Gesaeumt ist die kleine Haupstrasse des Parks von leeren Teehaeusern, deren Betreiber bei unserem Herannahen uns schon weitem zu einem Abendessen bei ihnen einladen. Wir wenden uns lieber dem Stand zu, bei dem man mit einem Plastik-Maschinengewehr Luftballons zum zerplatzen bringen kann. Etwas Unmut kommt auf, als die Besitzerin des Maschinengewehres am Schluss behauptet, sie haette mit "einem Yuan" einen Yuan PRO SCHUSS gemeint. Die Sache laesst sich jedoch, wie vermutlich alles in China, durch Verhandlungen loesen.

Eines der Teehaeuser direkt neben Neuschwanstein hat eine Terasse mit Liegestuehlen und Blick ueber das Flusstal. Die Sonne geht unter ueber dem westlichen Ende der Seidenstrasse. Dort hinten, hinter der Erdkruemmung, liegt irgendwo Istanbul. Kaum zu glauben, wirklich.
 

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