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Von Prag, meiner letzten Station, habe ich eine zweifellos romantische Vorstellung. Mein idealisiertes Prag als Abschluss meiner Reise ist herbstlich, nebelverhangen und mit nur wenigen Leuten in den grauen und kopfsteingeplasterten Gassen, ein Hauch von Franz Kafka weht durch die Strassen. Natürlich, und nicht überraschend, kommt zunächst alles anders.

Morgens verlasse ich Budapest gegen zehn Uhr, und gegen elf erreicht der Zug die Slowakei. Wir fahren an der Donau entlang, und die Slowakei ist ein liebliches, hügeliges, vom Herbst mit einem goldenen Schimmer überzogenes Land mit verschlafenen Dörfern und Weinbergen. Der slowakische Beamte, der meinen Pass kontrolliert hat ein rundes, gutmütiges Gesicht und hört, wie sein kleines Namensschild verrät, auf den schönen Namen Karel Špeck.

Der Zug hat als Zielbahnhof Berlin-Ost, und einige Sitzreihen von mir entfernt sitzen zwei ältere Frauen mit beigefarbener Kleidung, die offenkundig aus Sachsen stammen und die „Bild“-Zeitung lesen. Dies ist, denke ich, nach vierzehn Monaten mein erster direkter Kontakt mit Deutschland, und diese beiden älteren Damen sind der erste deutsche Außenposten, auf den ich treffe. Natürlich habe ich schon zuvor deutsche Touristen getroffen, aber dies hier ist nun so, als sei ich wieder in Deutschland, als sei ich hier im Osten auf ein kleines Stück deutschen Alltages getroffen, das sich hier in diesem ungarischen Eisenbahnwagon gemütlich und gründlich für die Fahrt nach Dresden eingerichtet hat.

In Tschechien wird das Land immer bergiger und goldener, und je länger wir fahren, desto mehr erinnert mich alles an Niederbayern, die barocken Kirchen, die leichte Schwermütigkeit der Landschaft und das Bewusstsein, dass es in jedem Dorf da draussen hervorragendes, ebenso leicht barockes Bier gibt. In Prag-Holešovice komme ich schließlich am späten Nachmittag an, als die Sonne schon tief über dem Moldaubogen steht.

Bereits vor langem habe ich beschlossen, daß ich in Prag mir nach Monaten in zumeist leicht schäbigen Hotels ein vernünftiges Zimmer suchen werde, eines in einem kleinen, heimeligen Hotel irgendwo im Zentrum der Stadt. In Istanbul hatte ich mir von einem Kanadier einen Reiseführer ausgeliehen und mir ein paar vielversprechende Adressen auf einen Zettel notiert, den ich jetzt, wo ich am Bahnhof stehe, leider nicht mehr wiederfinde. Alles, woran in mich erinnern kann, ist die U-Bahn Station Staře Mešto und den ungefähren Namen der Straße.

Bereits am Bahnhof waren mir wahre Horden von Leuten mit Rucksäcken aufgefallen und hatten Zweifel an meiner Annahme geweckt, in Prag sei jetzt Nebensaison und der Hauptansturm der Touristen vorbei. Als ich in Staře Mešto aussteige wird sofort klar, dass ich mich gründlich getäuscht habe. In der Tat kann ich mich nicht erinnern, jemals so viele Touristen auf einen Fleck gesehen zu haben. Nachdem ich die Hotels, die ich mir aufgeschrieben habe, doch noch finde, aber alle voll sind und überhaupt alles voll ist, weil nämlich in Wirklichkeit Hauptsaison ist, scheint plötzlich wirklich alles anders zu kommen.

Dennoch finde ich mich nach einer halben Stunde in einem Dachzimmer des kleinen und gemütlichen Hotels „U Klenotníka“ wieder, und plötzlich kommt doch alles so, wie ich es mir gewünscht hatte.

Es ist mittlerweile dunkel geworden, und ich laufe über die Karlsbrücke. Die Karlsbrücke war, so ähnlich wie in Budapest das Széchenyi-Bad, die einzige Sehenswürdigkeit, die ich unbedingt sehen wollte. Einmal über die Karlsbrücke laufen und dann nach Berlin, das war mein Plan gewesen.

Auf der Karlsbrücke, die wirklich, wie fast alles in Prag, atemberaubend schön ist, steht ein Mann, der auf einem Brett befestigten, kristallenen Weingläsern Musik macht. Die Gläser sind nach den Halbtonschritten ähnlich wie die Tasten eines Klaviers angeordnet, und der Mann spielt auf den Gläsern eine Symphonie. Die Gläser erzeugen einen sphärischen Klang, und er macht dazu die leicht theatralischen Bewegungen eines in sich und der Musik versunkenen Pianisten.

Jetzt, gegen Abend, ist der andere Stadtteil jenseits der Brücke bereits relativ leer, und weil ein ziemlich kalter und herbstlicher Wind geht, bin ich bald fast allein auf den Strassen. Es scheint hier noch zwei oder drei wirklich pragerische Kneipen zu geben, die leider gegen sieben Uhr alle voll sind. Ich laufe die Strassen hinauf bis zum Hradschin, und in den Seitengassen ist mit einem Male, ausser mir, niemand mehr.

Prag ist mit Sicherheit eine der außergewöhnlichsten Städte, die ich kenne. Jeder, der einmal einen Ableger von „Disneyland“ besucht hat, wird unweigerlich die geradezu magische Anziehungskraft verstehen, die Prag auf Amerikaner ausübt. Von einem Disneystandpunkt aus betrachtet erscheint Prag zweifellos wie ein Sinnbild oder wie ein Destillat der europäischen Kultur. In der Tat ist die barocke Schönheit Prags, die einem wirklich in jedem noch so kleinen Winkel begegnet, fast schon zu viel, und gehässig ausgedrückt ist Prag so etwas wie ein barockes Monster. Aber hier oben auf der anderen Moldauseite, in den tatsächlich nur spärlich erleuchteten Gassen, später am Abend, zeigt sich Prag plötzlich von einer verträumten, urtümlichen und wunderbaren Seite.

Nach einer Stunde gehe ich schließlich in eine kleine Kneipe, in der es Schweinsbraten, Pilsener Urquell und aushängende Zeitungen gibt. Ich esse einen Schweinsbraten an der Bar, versuche mir vorzustellen dass dies mein letzter Abend ist und unterhalte mich mit dem Gast neben mir über den Film „Kill Bill“, dann trinken wir zusammen ein frisch gezapftes Pilsener Urquell, noch eins und dann schließlich noch eins.
 

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