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8:30, Hotel U Klenotnika, Prag

Der letzte Tag also. Der Schlusspunkt, das Ende einer langen Reise, die Landung. Dies ist nun der letzte Akt.

Ich sitze in dem Frühstücksraum meines Prager Hotels, und da es das erste Hotel seit Hong Kong ist, denn sonst habe ich nur in Unterkünften oder „Hostels“ – wenn überhaupt – gewohnt, hält mich hier schon keiner mehr für einen Rucksacktouristen, sondern für einen Geschäftsreisenden, der das übliche mitteleuropäische Hotelfrühstück einnimmt, bestehend aus einem „Kännchen“ Kaffee und dem angebotenen Buffet aus zwei Käsesorten, zwei Wurstsorten, abgepackter Nutella und Früchtemüsli. Es ist, als ob das schon die Vorbereitung für den Alltag in Deutschland ist. Hier im Frühstücksraum sind auch überhaupt keine Backpacker mehr zu sehen, sondern nur ein mürrisches amerikanisches Touristenehepaar und ein paar wie Handelsvertreter aussehende ältere Männer, und überhaupt sagt der Name „Frühstücksraum“ ja schon alles. So etwas wie Frühstücksräume gibt es noch weiter im Osten nicht.


9:30, Stare Mesto, Prag

Das letzte mal die Tasche packen, aus der Tür heraustreten und sich auf den Weg machen, der letzte Tag unterwegs. Es ist der erste wirklich kalte Tag der Reise, aber in Prag wirkt die Kälte nicht störend, sondern eher als Teil der barocken Kulisse.

Es ist so kalt, dass ich mir unweit des Wenzelsplatzes eine schwarze Wollmütze kaufe. Die Strassencafes sind bei der Kälte verwaist. Trotzdem sind die Straßen voll, und es wird sehr viel deutsch und englisch gesprochen. In einem „Alles für 10 Kronen“-Laden entdecke ich einen chinesischen Fahradregenmantel, wie ich ihn mir schon immer in China kaufen wollte, weil es sie in Deutschland nicht gibt, aber jedes mal hatte ich es dann vergessen. Offenbar gibt es sie in Tschechien auch. Beim Bezahlen denke ich mir, dass das jetzt sozusagen mein einziges Souvenir aus Prag ist und dass das vielleicht eine bestimmte Symbolik hat, dass ich das Ding ausgerechnet noch hier finde, aber dann lasse ich den Gedanken fallen. Nicht jeder Trash ist allegoriefähig, alles hat seine Grenzen.


13:30, Hradschin, Prag

Gerade habe ich in der anderen letzten wirklichen Prager Kneipe, die ich am Vortag entdeckt habe, Serviettenknödel mit gerösteten Zwiebeln gegessen und dazu ein Budweiser getrunken. Nun stehe ich hier oben auf einem Aussichtspunkt und schaue auf die Moldau hinunter und denke daran, dass dies nun die letzten Stunden sind, dass ich nachher in Berlin sein werde und dass ich mich wahrscheinlich gerade in einer Art Transformationsstadium befinde, nicht mehr ganz auf der Reise, aber auch noch nicht am Ziel. Es ist ein Abschied, nicht nur von Prag, sondern vom Leben unterwegs. Die letzten Tage bin ich durch Osteuropa getourt, als seien die Hauptstädte mit einer U-Bahn verbunden, so als würde man sagen, fahren wir doch mal kurz auf einen Kaffee nach Budapest, und danach auf ein Bier nach Prag. Im Grunde ist das Leben unterwegs sehr leicht, aber es ist auch gut, dass es jetzt vorbei ist. Nach Lissabon würde ich jetzt von hier aus nicht mehr weiterfahren wollen.

Eigentlich ist das der Moment, die Geschehnisse der letzten zwei Monate Revue passieren zu lassen, wie eine Art Zusammenfassung oder ein Fazit, so würde das zumindest in einem Film passieren, aber komischerweise gelingt mir keinerlei Rückblende, so wir mir das schon im Szechenyi-Bad in Budapest nicht gelungen ist. Wahrscheinlich funktioniert das auch nicht für mich ganz allein, sondern es muss alles erzählt werden. Jetzt, in diesem Moment, ist Usbekistan genauso weit weg hinter dem Horizont, wie es vor zwei Monaten Istanbul war, und wahrscheinlich kann es auch anders nicht sein.

Schon von Bukarest aus hatte ich meinen Freunden in Berlin gemailt, dass ich heute, Freitag den 24. Oktober 2003, um 20:16 in Berlin ankommen werde. Jetzt hoffe ich, dass ich sie alle am Bahnhof treffe, denn ich könnte mir nichts schlimmeres vorstellen als einfach so in Berlin anzukommen, heimlich, still und leise, als sei ich niemals weg gewesen, und umgekehrt nichts schöneres, als von ihnen allen empfangen zu werden.

Ich stehe auf der Aussichtsplattform, unter mir liegt die Karlsbrücke, der Fluss, in der Ferne steht der Prager Fernsehturm, es ist leicht bedeckt, ein etwas trüber, aber nicht grauer Herbsttag. Hier auf dieser Aussichtsplattform ist außer mir niemand, nur ein Polizist kommt langsam den Weg vom Hradschin herunterspaziert, ohne mich weiter zu beachten.

Plötzlich geschieht etwas seltsames: mit einem Mal, wie ich so auf die Stadt hinunterschaue, werde ich richtig nervös, so nervös, als hätte ich Lampenfieber vor einem Auftritt, so richtig zum aufs-Klo-rennen nervös. Es ist diese Art von Nervosität, die alle Eindrücke unwirklicher erscheinen lässt, oder sehr viel deutlicher, so genau kann man das ja nie sagen.

So eile ich ins Hotel zurück, hole mein Gepäck und verlasse Prag um 15:09 mit dem Zug nach Berlin.


17:10, Bad Schandau, nahe der deutsch-tschechischen Grenze

Der Zug ist die letzte Stunde entlang der Elbe gefahren, rechts und links liegt das Elbsandsteingebirge, und jetzt, wo die Sonne herausgekommen ist, leuchtet die Landschaft hübsch, einladend und herbstlich. Auf der Elbe fahren ein paar altertümliche Ausflugsdampfer, und die deutsche Grenze zeigte sich dadurch, dass sich die alten Häuser am Flussufer plötzlich in grauenhafte „Ausflugsgaststätten“ verwandelt haben. Eigentlich wollte ich genau den Moment abpassen in dem ich – nach bald eineinhalb Jahren - wieder Deutschland erreiche, so ähnlich wie man an Silvester die Sekunden rückwärts zählt bis zum Jahreswechsel, eine Handlung, für die es ja auch keinen rationalen Grund gibt. Es gab draussen aber überhaupt keinen Hinweis auf die Grenze, es gab keinen Zaun, die Schienen wurden nicht schlechter, und nicht mal ein lumpiges Hinweisschild hat die Bundesregierung aufgestellt, wobei man doch so schön mit „Willkommen bei Freunden!“ für die WM hätte werben können.

Ansonsten bekomme ich von Deutschland vorerst nicht allzu viel mit, es scheint sich nicht allzu stark verändert zuhaben, allerdings war ich noch nie im Elbsandsteingebirge und kann daher keine Unterschiede feststellen. Die Leute im Zug zumindest haben im vergangenen Jahr keine modische Revolution durchgemacht, soviel ist sicher. Ich lese eine liegengebliebene deutsche Boulevard-Zeitung, und es scheint, dass mich das Verpassen der Sendung „Deutschland sucht den Superstar“ zum absoluten Außenseiter gemacht hat, aber ich hatte damals ja auch schon die erste Staffel von „Big Brother“ verpasst.


19:00, im Zug

Dresden war der letzte Halt vor Berlin, und dort habe ich durch Zufall Sophie und Christian getroffen. Sophie war plötzlich den Mittelgang durch den Wagen gelaufen, und hatte dann Christian angerufen, der tatsächlich ebenfalls im Zug saß. Jetzt bin ich fast wieder zuhause, aber ich bin immer noch genauso aufgeregt wie ich seit heute mittag schon war, und daher bin ich fast nicht in der Lage, etwas sinnvolles zu sagen. Draußen ist es bereits dunkel, und nur ein paar Lichter ziehen vorbei. Wir gehen in das „Bord-Bistro“ und trinken Radeberger. Beim Bezahlen merke ich, dass mit der Euro wie eine fremde Währung vorkommt, zu der ich genauso wenig Bezug habe wie zu tschechischen Kronen oder zu Forint. Langsam, ganz allmählich meine ich zu spüren, dass sich doch einiges verändert hat, nicht nur die Währung, sondern der ganze Rahmen, vielleicht hat sich die Stimmung geändert, die Zusammensetzung der Luft oder die Art, wie die Leute gehen oder im Zug mit unbewegtem Gesicht skeptisch die Zeitung aufschlagen.


20:16, Ostbahnhof, Berlin

Wir stehen alle auf dem Bahnsteig, und ein Tourist macht von uns ein Gruppenfoto, und dann noch eins. Es ist kalt in Berlin, und hier oben am Bahnsteig weht ein kalter Wind.

Eigentlich ist es, wie man so schön sagt und es auch so schön sagen darf, wie ein Traum.

Von Prag, meiner letzten Station, habe ich eine zweifellos romantische Vorstellung. Mein idealisiertes Prag als Abschluss meiner Reise ist herbstlich, nebelverhangen und mit nur wenigen Leuten in den grauen und kopfsteingeplasterten Gassen, ein Hauch von Franz Kafka weht durch die Strassen. Natürlich, und nicht überraschend, kommt zunächst alles anders.

Morgens verlasse ich Budapest gegen zehn Uhr, und gegen elf erreicht der Zug die Slowakei. Wir fahren an der Donau entlang, und die Slowakei ist ein liebliches, hügeliges, vom Herbst mit einem goldenen Schimmer überzogenes Land mit verschlafenen Dörfern und Weinbergen. Der slowakische Beamte, der meinen Pass kontrolliert hat ein rundes, gutmütiges Gesicht und hört, wie sein kleines Namensschild verrät, auf den schönen Namen Karel Špeck.

Der Zug hat als Zielbahnhof Berlin-Ost, und einige Sitzreihen von mir entfernt sitzen zwei ältere Frauen mit beigefarbener Kleidung, die offenkundig aus Sachsen stammen und die „Bild“-Zeitung lesen. Dies ist, denke ich, nach vierzehn Monaten mein erster direkter Kontakt mit Deutschland, und diese beiden älteren Damen sind der erste deutsche Außenposten, auf den ich treffe. Natürlich habe ich schon zuvor deutsche Touristen getroffen, aber dies hier ist nun so, als sei ich wieder in Deutschland, als sei ich hier im Osten auf ein kleines Stück deutschen Alltages getroffen, das sich hier in diesem ungarischen Eisenbahnwagon gemütlich und gründlich für die Fahrt nach Dresden eingerichtet hat.

In Tschechien wird das Land immer bergiger und goldener, und je länger wir fahren, desto mehr erinnert mich alles an Niederbayern, die barocken Kirchen, die leichte Schwermütigkeit der Landschaft und das Bewusstsein, dass es in jedem Dorf da draussen hervorragendes, ebenso leicht barockes Bier gibt. In Prag-Holešovice komme ich schließlich am späten Nachmittag an, als die Sonne schon tief über dem Moldaubogen steht.

Bereits vor langem habe ich beschlossen, daß ich in Prag mir nach Monaten in zumeist leicht schäbigen Hotels ein vernünftiges Zimmer suchen werde, eines in einem kleinen, heimeligen Hotel irgendwo im Zentrum der Stadt. In Istanbul hatte ich mir von einem Kanadier einen Reiseführer ausgeliehen und mir ein paar vielversprechende Adressen auf einen Zettel notiert, den ich jetzt, wo ich am Bahnhof stehe, leider nicht mehr wiederfinde. Alles, woran in mich erinnern kann, ist die U-Bahn Station Staře Mešto und den ungefähren Namen der Straße.

Bereits am Bahnhof waren mir wahre Horden von Leuten mit Rucksäcken aufgefallen und hatten Zweifel an meiner Annahme geweckt, in Prag sei jetzt Nebensaison und der Hauptansturm der Touristen vorbei. Als ich in Staře Mešto aussteige wird sofort klar, dass ich mich gründlich getäuscht habe. In der Tat kann ich mich nicht erinnern, jemals so viele Touristen auf einen Fleck gesehen zu haben. Nachdem ich die Hotels, die ich mir aufgeschrieben habe, doch noch finde, aber alle voll sind und überhaupt alles voll ist, weil nämlich in Wirklichkeit Hauptsaison ist, scheint plötzlich wirklich alles anders zu kommen.

Dennoch finde ich mich nach einer halben Stunde in einem Dachzimmer des kleinen und gemütlichen Hotels „U Klenotníka“ wieder, und plötzlich kommt doch alles so, wie ich es mir gewünscht hatte.

Es ist mittlerweile dunkel geworden, und ich laufe über die Karlsbrücke. Die Karlsbrücke war, so ähnlich wie in Budapest das Széchenyi-Bad, die einzige Sehenswürdigkeit, die ich unbedingt sehen wollte. Einmal über die Karlsbrücke laufen und dann nach Berlin, das war mein Plan gewesen.

Auf der Karlsbrücke, die wirklich, wie fast alles in Prag, atemberaubend schön ist, steht ein Mann, der auf einem Brett befestigten, kristallenen Weingläsern Musik macht. Die Gläser sind nach den Halbtonschritten ähnlich wie die Tasten eines Klaviers angeordnet, und der Mann spielt auf den Gläsern eine Symphonie. Die Gläser erzeugen einen sphärischen Klang, und er macht dazu die leicht theatralischen Bewegungen eines in sich und der Musik versunkenen Pianisten.

Jetzt, gegen Abend, ist der andere Stadtteil jenseits der Brücke bereits relativ leer, und weil ein ziemlich kalter und herbstlicher Wind geht, bin ich bald fast allein auf den Strassen. Es scheint hier noch zwei oder drei wirklich pragerische Kneipen zu geben, die leider gegen sieben Uhr alle voll sind. Ich laufe die Strassen hinauf bis zum Hradschin, und in den Seitengassen ist mit einem Male, ausser mir, niemand mehr.

Prag ist mit Sicherheit eine der außergewöhnlichsten Städte, die ich kenne. Jeder, der einmal einen Ableger von „Disneyland“ besucht hat, wird unweigerlich die geradezu magische Anziehungskraft verstehen, die Prag auf Amerikaner ausübt. Von einem Disneystandpunkt aus betrachtet erscheint Prag zweifellos wie ein Sinnbild oder wie ein Destillat der europäischen Kultur. In der Tat ist die barocke Schönheit Prags, die einem wirklich in jedem noch so kleinen Winkel begegnet, fast schon zu viel, und gehässig ausgedrückt ist Prag so etwas wie ein barockes Monster. Aber hier oben auf der anderen Moldauseite, in den tatsächlich nur spärlich erleuchteten Gassen, später am Abend, zeigt sich Prag plötzlich von einer verträumten, urtümlichen und wunderbaren Seite.

Nach einer Stunde gehe ich schließlich in eine kleine Kneipe, in der es Schweinsbraten, Pilsener Urquell und aushängende Zeitungen gibt. Ich esse einen Schweinsbraten an der Bar, versuche mir vorzustellen dass dies mein letzter Abend ist und unterhalte mich mit dem Gast neben mir über den Film „Kill Bill“, dann trinken wir zusammen ein frisch gezapftes Pilsener Urquell, noch eins und dann schließlich noch eins.

Der Nachtzug aus Bukarest erreicht Budapest morgens um sieben. In der Nacht habe ich ein letztes mal die Zeit umgestellt: nun bin ich, was die Zeitzone anbetrifft, bereits am Ziel. Budapest erscheint mir wie eine letzte Durchgangsstation, die ich aufgrund dessen, was hinter mir liegt und wegen seiner Nähe zu Berlin nicht angemessen würdigen kann. Es ist ein bisschen wie der Moment, in dem die Marathonläufer in das Stadion einlaufen, um die letzte Runde anzutreten. Morgen nachmittag möchte ich bereits in Prag sein.

Mit der Hilfe von Peters Schwester Angela, die zur Zeit in Budapest wohnt und mit der ich zusammen den Nachtzug genommen hatte, frage ich in dem blitzsauberen „Keleti-pu.“-Bahnhof nach den Abfahrtszeiten der Züge nach Prag für den nächsten Tag. Dann nehmen wir die U-Bahn bis zu ihrer Wohnung gleich hinter dem ungarischen Parlament. Die Strassen in diesem Teil von Budapest sind noch sauberer als der Bahnhof. Alles kommt mir so unglaublich sauber und aufgeräumt vor, dass ich zu dem Schluss komme, dass an meiner Wahrnehmung etwas nicht stimmen kann. Ich frage Angela, ob sie die Strassen, durch die wir gehen, ebenso sauber findet, und sie sagt, in Deutschland sei alles noch viel sauberer. Kein Zweifel: nach zwei Monaten in China und Zentralasien hat sich mein Begriff von Sauberkeit deutlich verschoben. Vermutlich werde ich Berlin jetzt als einen Ort geradezu beängstigender Reinlichkeit empfinden. Wie es ist, wieder in München oder Freiburg zu sein, wage ich mir gar nicht vorzustellen.

Die Wohnung liegt in einem alten Mietshaus, das genauso aussieht wie die Mietshäuser in Wien. Im Hausflur unterhalten sich zwei gutgelaunte ältere Damen über den Gang der Dinge, leider auf ungarisch, so dass ich nichts verstehen kann. Angela erzählt mir, dass sie Budapest unter anderem deswegen so liebt, weil sich hier die alten Leute ein schöne Zeit zu machen verstehen und das Leben gemeinsam geniessen, anstatt den ganzen Tag allein in der Wohnung zu sitzen. Tatsächlich kann ich mir nicht vorstellen, von diesen beiden freundlichen alten Damen jemals einen vollen Einkaufswagen in den Rücken gerammt zu bekommen, so wie mir das in Berliner „Penny“-Supermärkten regelmäßig passiert war. Der Gedanke an verbiesterte Berliner Rentner ist hier, in dieser schönen Stadt, nicht besonders erheiternd. Dabei wird mir klar, dass ich im Grunde überhaupt keine Vorstellung davon habe, wie es sein wird, nach über einem Jahr Abwesenheit aus Europa wieder in Berlin zu leben. Jetzt sind es nur noch zwei Tage, die mich von Deutschland trennen.

Das einzige, was ich in Budapest machen will, ist in eines der berühmten Budapester Thermalbäder zu gehen und, sozusagen als ein symbolischer Abschluss der Reise, ein ausgiebiges Bad zu nehmen. Ausserdem war ich erst in Bukarest erstmals wieder auf eine Dusche mit zuverlässig funktionierendem Warmwasser gestoßen, und kann mir wenig schöneres Vorstellen, als stundenlang in heißem Wasser zu sitzen und über die vergangene Reise zu sinnieren. Ausserdem möchte ich diese berühmten alten Männer sehen, die den ganzen Tag im Thermalbad zubringen und Schach spielen. Der richtige Ort hierfür sei, so hatte ich in Erfahrung gebracht, nicht etwa die berühmte Badeanstalt „Gellert“, sondern das etwas unbekanntere, aber mindestens genauso schöne Széchenyi-Bad.

Vor der Kasse des -Bades steht eine geduldige lange Schlange von zumeist Budapester Rentnern, die alle Dauerkarten in der Hand haben. Neben dem Kassenhäuschen hängt eine Preisliste mit verwirrend vielen verschiedenen Einzelleistungen. Zum Glück gibt es jedoch auch ein Standard-Programm, dass einem Eintritt in alle verschiedenen Bäder des Széchenyi verschafft.

Das Bad ist von aussen wie von innen in dem schnörkeligen, ausladenden Geist des späten neunzehnten Jahrhunderts erbaut worden und erinnert mich an das „Müllersche Volksbad“ in München, bloß dass das Széchenyi-Bad zehnmal so groß und ein ganz normales Bad ohne Museums-Allüren ist. Meine Sachen lasse ich in einem alten Holzspind, auf den ein beleibter, weissgekleideter Bademeister mit einem Stück Kreide eine Nummer schreibt, die ich mir merken soll. Das erste Bad ist ein römisch aussehendes Gewölbe, in dem sich ein Becken mit grünlichem Wasser befindet, das leichte Schwefeldämpfe verbreitet. Das ganze sieht ungeheuer heiss und gesund aus. Am Rand des Beckens stehen alle möglichen Leute bis zum Hals im Wasser und treten ab und zu von einem Fuss auf den anderen. Ich stelle mich dazu und schaue, so wie alle anderen auch, den Leuten zu, die nach uns über die elegante Treppe ins Wasser steigen. Insgesamt gibt es etwa zehn solcher Becken in verschiedenen Räumen, manche mit unerträglich heißem und manche mit eiskaltem Wasser. Viele Badegäste sind bereits im Rentenalter, und da es unmöglich ist, sich in dieser Umgebung nicht wohlzufühlen, wirken die ergrauten und oftmals beleibten Badenden nicht etwa verbiestert, sondern würdevoll und wie großartige Charakterköpfe in einer wunderschönen Kulisse. Plötzlich verstehe ich auch, warum am Eingang des Bades auf grossen Schildern extra auf das Film- und Fotografierverbot hingewiesen wird.

Im Innenhof des Bades befindet sich schließlich das grosse, geschwungene Becken, in dem die Schachspieler stehen. Anders als im Inneren ist das Wasser hier nicht schwefelig, und das Becken ist mit leuchtend blauen Kacheln ausgelegt. Die Schachbretter befinden sich auf zwei kleinen Mäuerchen, die wie ein Tresen in das Becken hineingebaut sind. Die Schachspieler stehen bis knapp zu den Schultern im Wasser, und weil es ein ziemlich kalter Tag ist, tauchen die Schachspieler und die Zuschauer manchmal kurz unter, wenn es an der Luft zu kalt geworden ist. In der kalten Luft dampft das heisse Wasser und taucht das Becken in einen leichten Nebel. So wie die Spieler selbst schauen auch die Zuschauer, die in einer Traube um die Spieler herumstehen, angestrengt auf die Partien und kneten sich dabei gedankenverloren die Lippen. Weil die Luft so kalt ist, tragen zwei der Spieler Stoffmützen. Das Wasser hingegen fühlt sich auch nach Stunden noch heiß und angenehm an.

Am Nachmittag wandere ich über die Donaubrücke hinauf zur Residenz. Es ist ein grauer, mitteleuropäischer Herbsttag, an dem es niemals richtig hell wird. Trotzdem ist die Stadt geradezu überwältigend schön. Abends gehen Angela und ich in den Film „Kill Bill“ und danach in einen britischen Pub, in dem englischer Fussball läuft, aber ich kann mir immer noch nicht vorstellen, jetzt schon so nah am Ziel zu sein. Nicht jetzt, und nicht hier in Budapest.

Der Zug von Istanbul nach Bukarest durchquert Bulgarien. Vom Zugfenster aus betrachtet ist Bulgarien ein liebliches und herbstliches Land, und am Bahndamm stehen Buesche mit wirklich leuchtenden, herbstgelben Blaettern. Es regnet leicht, und der Regen laesst das Land ein bisschen melancholisch erscheinen. Es sehe aus "wie ein Herbstgedicht", sagt mein Abteilnachbar, der in Freiburg studiert und ebenfalls von Kirgisien aus ueber Land hierher gekommen ist.

Wir erreichen die rumaenische Grenze und ueberqueren die Donau. Die Donau ist hier, kurz vor der Muendung ins Schwarze Meer, unglaublich breit. Auf der bulgarischen Seite steht ein grosses Kraftwerk. Die gesamte Abfertigung dauert auf beiden Seiten etwa eine Stunde.

Bukarest ist, um es hier nur kurz zu sagen, eine Stadt mit unglaublich kaputten Strassen, unglaublich schoenen, wenn auch zum Teil heruntergekommenen Haeusern und Pariser Strassennamen. Dies ist das alte Paris des Ostens, das seinen Namen zu Recht traegt. Ich treffe meinen alten Schulfreund Peter, der als angehender Regisseur kurz vor der Premiere seines ersten Theatherstueckes steht. Es gibt den "Palast des Volkes", den groessenwahnsinnigen Prachtbau Nicolai Ceaucescus, den "Platz der Revolution", auf dem Ceaucescu gestuerzt wurde, es gibt kaum Touristen, ein unbeschreibliches Nachtleben, kleine Laeden, Benetton, windige Zuhaelter vor dem Hotel "Interconti", neueroeffnete Cafes, unzehlige Theather und eine grossartige, energiegeladene Athmossphaere, die ein bisschen an das Ostberlin der Nachwende erinnert, und alles in allem, so viel sei verraten, kann ich nur empfehlen, sofort und unverzueglich fuer mindestens ein Wochende nach Bukarest zu fahren. Sofort!

Um elf Uhr morgens verpasse ich fast den Bus von Dogubayazit nach Istanbul, der 22 Stunden spaeter in Istanbul ankommen soll. Bis in den spaeten Nachmittag hinein faehrt der Bus durch das Ostanatolische Bergland, oder, wie meine Mitreisenden natuerlich sagen, durch Kurdistan. Es ist eine vollkommen baumlose, braune, bergige und dramatische Gegend. Auch hier ist es jetzt eindeutig Herbst geworden, und die tiefstehende Sonne beleuchtet kleine, aermliche Doerfer, und weite Ebenenen, durch die Schaefer mit ihren grossen Schafsherden ziehen. Jedes kleine Dorf hat eine Moschee, und alle Moscheen haben identische, spitze, ottomanische Minarette. Blickt man ueber die Ebene, so sie weithin zu sehen. Dadurch wirkt der Islam hier auf verblueffende Art europaeisch: unweigerlich fuehlt man sich etwa an Oberbayern oder den Niederhein erinnert, alles Gegenden, in denen die Dorfkirchtuerme der Landschaft ein bestimmtes Gepraege geben. Im Iran dagegen fehlen die schlanken Tuerme meistens.

Im Bus wird Tee und Fanta ausgeschenkt, und von Zeit zu Zeit geht der Bus-Steward mit einer riesigen Flasche Zitrus-Erfrischungs-Alkohol, der auch fuer diese abgepackten Erfrischungstuecher verwendet wird, durch den Bus und giesst jedem Fahrgast etwas davon in die Haende. Der Bus ist bis auf den letzten Platz besetzt.

Bei Sonnenaufgang befinden wir uns bereits in der Peripherie von IIstanbul. Istanbul hat ungefaehr, niemand weiss es genau, 12 Millionen Einwohner und ist im Grunde die tuerkische Hauptstadt. Die Autobahn verlaeuft entlang des Marmaris-Meeres, das hier nur eine Meerenge ist. Ueberall sind neue Geschaefte und Gewerbebetriebe zu sehen, und fast kein auslaendisches Unternehem scheint zu fehlen. Hier ist die Tuerkei so modern und fortschrittlich wie jedes beliebeige mitteleuropaeische Land, und auch fast so europaeisch.

Kurz vor neun Uhr kommt der grosse Moment, auf den ich schon gewartet hatte: der Bus ueberquert den Bosporus auf der Kemal-Atatuerk-Bruecke, dieser riesigen Haengebruecke die man in Berlin oft auf Tuerkei-Postern sieht, und das bedeutet, dass ich wieder in Europa bin. Wie erwartet sieht es auf der europaeischen Seite Istanbuls genauso aus wie auf der asiatischen, aber immerhin, rein rational betrachtet, habe ich Asien jetzt verlassen.

In Esfahan hatte ich mir die Istanbul betreffenden Seiten des "Lonely Planet"-Reisefuehrers kopiert, und diese schlagen vor, sich umgehend in einen Stadtteil namens Sultanahmed zu begeben, weil dieser nicht nur ganz nah an der Hagia Sophia und "all the other sights" sei, sondern weil es dort auch billige Unterkunft gebe. Ich folge also der Beschreibung und verlasse den monstroesen, aber perfekt funktionierenden Busbahnhof, auf dem sich hunderte von Reisebussen auf mehreren Ebenen durch enge Parkhausgassen zwaengen. Auch die U-Bahn und vor allem die Leute in der Ubahn bestaetigen meinen Eindruck von der Tuerkei: dies ist nicht irgendein obskures islamisches Land, sondern dies hier ist bereits, ohne Zweifel, Europa. Dies alles hier koennte
sich so oder so aehnlich auch in Italien oder Spanien abspielen.

Sultanahmed ist, wie eigentlich zu erwarten war, ein kleiner, einhundertprozentig auf Touristen eingestellter Stadtteil. Hier gibt es die ueblichen Herbergen fuer Rucksacktouristen, die ueblichen Internetcafes, englischsprachige Filme, englischsprachige Friseure,
Heineken und professionelle Freundlichkeit. Ueberall sind Leute mit aufgeschlagenen "Lonely Planet"-Reisefuehrern zu sehen, weiter oben am Hang parken etwa dreissig Reisebusse, also alles die Dinge, die es auf meiner bisherigen Reise nicht gegeben hat und die ich, offen gesagt, auch nicht sonderlich vermisst habe. Ich checke in einer der Herbergen ein, und frage mich mit einem Mal, was ich hier in Istanbul eigentlich drei Tage lang anfangen soll. Ich gehe ein paar Meter zur Hagia Sophia, der alten byzantinischen Kathedrale, und weiter zur Blauen Moschee. Ein Blick auf die Schlangen an den Kassenhaeuschen vor der Hagia Sophia macht wenig Lust darauf, sich von der Menge durch das Kircheninnere schieben zu lassen. Eigentlich sieht das alles ganz schoen deprimierend aus. Vielleicht bin aber auch Europa einfach nicht mehr gewoehnt.

Vor einer Doenerbude im Nachbarstadtteil Beyazit unterhalte ich mich mit dem "Tuervorsteher", wie er sich selber auf deutsch nennt, der die Leute auf fuenf Sprachen in die Doenerbude zu locken versucht. Er erzaehlt mir, dass ich dreissig Dollar pro Tag bekomme, wenn ich Touristen auf Deutsch, Englisch, Franzoesisch und Spanisch anspreche, und einhundert Dollar, wenn ich dazu noch Russisch kann. Die Russen bringen hier das grosse Geld, und tatsaechlich sind viele Schilder in Beyazit zweisprachig auf tuerkisch und russisch. Hier, nur fuenfhundert Meter von den Touristenstroemen entfernt, liegt, vom "Lonely Planet" vollkommen unbeachtet, das russische Istanbul, in dem es vor allem um eines geht: um Schuhe und um Lederjacken, und diese in rauhen Mengen. Beyazit ist voller kleiner, steiler Gassen, in denen sich Schuhe und Lederwaren tuermen, die in den Keller und Hinterhoffabriken hergestellt werden. Das meiste davon wird von russischen Haendlern in Autos oder Kleinbusse verladen und nach Russland oder die Ukraine geschafft. Hier ist die Quelle fuer Schuhe und Lederjacken in Europa. Daher beschliesse ich, mir sofort eine Lederjacke und Schuhe zu kaufen.

In einer Seitengasse gehe ich mit einem Hersteller in seinen kleinen Laden, der sich im dritten Stock eines unscheinbaren Hauses befindet. Hier zeigt sich, dass die Haendler in Beyazit zwar fast kein englisch, dafuer aber fast alle russisch koennen. Das ist fuer mich eine ganz wunderbare Entdeckung, da ich seit Kirgisien und Usbekistan auf Russisch zaehlen und nach dem Preis fragen kann, und ueberhaupt fuer den Jackenhandel genug russisch spreche. Damit ist mir hier in Beyazit genug "street credibility" sicher, um eine Jacke zum russischen Preis zu bekommen. Es ist grossartig, vor allem wenn man ploetzlich weiss, wie unglaublich wenig ein Paar Schuhe beim Grosshaendler in Beyazit kostet: das Einganggebot liegt bei fuenfzehn US-Dollar pro Paar, 140 fuer acht,
leider kein Einzelverkauf, und eine Jacke, die oben im Basar fuer 300 Dollar Touristen angeboten wird, gibt es hier in Beyazit fuer 125 dolari amerikanski, man muss nur mit den Leuten reden, und mit einem Mal ist der erste der drei Tage in Istanbul schon rumgegangen.

Am naechsten Tag gehe ich abends ueber die Galatassaray-Bruecke. Die Bruecke ist voller Angler, am Kai werden geraeucherte Kastanien und frisch gebratener Fisch verkauft, der genauso wie der bayrische Steckerlfisch riecht, ein kalter Wind weht, und mit dem Duft von Maroni und Steckerlfisch in kalter Luft ist Istanbul ploetzlich genauso so wie der Herbst in Mitteleuropa.

Der erste Bus zur tuerkischen Grenze faehrt nach Auskunft der Mitarbeiter des "Hotel Maschhad" bereits um 6 Uhr 30, und ich habe den Wecker auf halb sechs gestellt. Draussen ist es stockdunkel, und als ich um sechs Uhr hinunter in das Cafe gehe, das um diese Zeit oeffen soll, schlaeft der Kellner im Cafe auf zusammengeschobenen Holztischen. Auch die Strasse, eine Hauptverkehrsstrasse, ist wie ausgestorben. Nach einer Weile beginnt draussen der Muezzin in der Moschee nebenan zum Gebet zu rufen. Nach einer Weile wird mir klar, dass mein Wecker noch auf usbekischer Zeit laeuft, die der iranischen um eineinhalb Stunden voraus ist: in Wirklichkeit ist es erst fuenf Uhr - ein echter Reiseklassiker.

Mit drei kurdischen Studenten, die im "Maschhad" fruehstuecken, teile ich mir ein Taxi zum Busbahnhof zum Busterminal und verpasse den sechs Uhr dreissig nach Maku nur knapp. Wir mussten noch an ihrer Universitaet vorbei um jemanden abzuholen, aber so frueh am morgen ist das eigentlich egal. Es sind etwa dreihundert Kilometer bis zur tuerkischen Grenze, und ich werde Dogubayazit, das seinerseits nur knapp dreissig Kilometer von der Grenze entfernt in der Tuerkei liegt, auf jeden Fall erreichen. Nach zaehen Verhandlungen mit einem Taxifahrer nehme ich ein Sammeltaxi zur Grenze und zahle tatsaechlich nur den ortueblichen Preis, den mir die Leute im "Maschhad" verraten hatten. Wenn man lange unterwegs ist gewoehnt man sich an das Spiel, aber sympathischer werden die Taxifahrer dennoch nicht. Mit zwei ziemlich abgerissen aussehenden jungen Kurden vom Land, die dunkle Sonnenbrillen mit der Aufschrift "Police" tragen und riesige Mengen Gepaeck im Kofferraum verstaut haben, und einem iranischen Studenten fahren wir los. Der Fahrer faehrt wie ein Irrer, bereits nach einer gutem Stunde haben wir die Haelfte der Strecke hinter uns. Zum Glueck ist heute Freitag, und die Strasse ist nahezu leer. Die Strasse fuehrt durch das kurdische Hochland, das kahl und um diese Jahreszeit gelb-braun aussieht. Einmal ist auf dem Abhang eines Huegels mit weissen Steinen ein persischer Spruch gelegt, und am naechsten Huegel folgt die englische Uebersetzung, die "Down with USA" lautet.

Als die Schilder nur noch sechzig Kilometer bis zu dem iranischen Grenzort Bazargan anzeigen, wird nach einer Kurve der Berg Ararat sichtbar. Der Himmel ist wolkenlos, und der Ararat ragt weit ueber die Hochebene hinaus. Das obere Viertel ist schneebedeckt, und der Berg ist fast genau kegelfoermig, ein alter, erloschener Vulkan. Dank unseres Fahrers wird er rasch groesser, und gegen zehn erreichen wir Bazargan.

In Bazargan stauen sich vor allem tuerkische Lastwagen. Die letzten zwei Kilometer bis zum Grenzgebaeude gehe ich zu Fuss, etwa auf der Haelfte stoppt ein baertiger iranischer Polizist in seinem Privatauto und nimmt mich den letzten Kilometer mit. So ist das im Iran, sogar an so einem verkommen Grenzort wie Bazargan.

Direkt auf der Grenzlinie, die durch ein grosses Rolltor gekennzeichnet sind, treffe ich ein junges Schweizer Ehepaar auf Fahrraedern, die ebenfalls in die Tuerkei fahren. Sie sind mit dem Fahrrad aus Bangkok gekommen und seit November unterwegs.

Von Guerbulak, wie die Haeuseransammlung auf der tuerkischen Seite heisst, fahre ich in einem Kleinbus nach Dogubayazit. Der Chef des Busses erklaert mir auf deutsch, dass er Kurde ist und das der Bus gleich abfaehrt. Auch alle anderen Leute sind, wie er sagt, Kurden. Bereits nach drei Kilometern wird auch sichtbar, warum dies alle Kurden betonen: die Strasse wird halb durch einen tuerkischen Panzer versperrt, und ein junger Soldat kontrolliert die Ausweise meiner kurdischen Mitreisenden. Obwohl der junge Sodat sehr freundlich ist und Scherze macht, wird es still im Bus. Vor wenigen Jahren, als die PKK noch aktiv war, konnte es hier in der Gegend schnell gefaehrlich werden. Neben der Strasse stehen weitere gepanzerte Fahrzeuge, und die Soldaten tragen Schnellfeuergewehre ueber der Schulter. Ueber der Szenerie thront majestaetisch und friedlich der biblische Berg Ararat.

"Murat's Camping" befindet sich etwa drei Kilometer ausserhalb von Dogubayazit. Fuer einen laecherlich geringen Geldbetrag vermietet Murat auch einfache Zimmer in einem kleinen Gebaeude neben dem Restaurant. Der Blick ueber die Ebene ist, wie mir der Kanadier in Esfahan versprochen hatte, atemberaubend. Etwas ueberhalb des Campingplatzes klebt foermlich ein altes ottomanisches Schloss an einem felsigen Steilhang. Von hier aus kann man die Seidenstrasse in der Ebene uebersehen, und das Schloss ist aus den Wegezolleinahmen finanziert worden, die unten im Tal eingetrieben wurden. Dem Aussehen nach kann das Geschaeft frueher nicht allzu schlecht gelaufen sein, jetzt ist der Palast jedoch eine Ruine.

Die Saison ist zwar vorbei, aber dennoch ist Betrieb auf dem Campingplatz. Schnell zeigt sich, dass fast alle hier mindestens nach Indien unterwegs sind: ein junger Deutscher aus Thueringen und seine Freundin radeln nach Indien, ein aelteres Ehepaar aus Muenchen faehrt mit dem Camping-Bus nach Indien, ein junger deutscher Hippie aus Suedbaden und seine etwa dreissig Jahre aeltere Ehefrau fahren in einem alten Mercedes-Transporter ebenfalls nach Indien, so auch die jungen Franzosen mit ihren zwei kleinen Kindern. Ein Australier faehrt mit dem Motorrad von London nach Australien, die beiden Schweizer, die am naechsten Tag auf dem Campingplatz vorbeischauen, radeln von Thailand in die Schweiz, und ueberhaupt haben hier alle lange Reisen vor. Es ist sehr nett abends, es werden viele interessante Geschichten erzaehlt, und ab und zu kommen weitere Radreisende auf dem Weg nach Indien vorbei. Nur der Taxifahrer Mehmet laesst sich nicht blicken. Vielleicht, um jetzt einen gekuenstelten Schluss fuer diesen Eintrag zu finden, ist er ja auf dem Weg nach Indien, ha ha ha.

Der Bus faehrt die Nacht durch und kommt gegen neun Uhr morgens in Tabriz an. Die Gegend ist, wie mir die Leute im Bus erklaeren, kurdisch, und die meisten im Bus sind Kurden. Als es hell wird, erweist sich Iranisch-Kurdistan als bergig, braun und frueh morgens fuer diesen Breitengrad bereits ziemlich kalt. Der Kaukasus schliesst sich unmittelbar im Norden an, und von Tabriz verkehren regelmaessig Busse in das benachbarte Armenien und nach Georgien.

Im Radio laeuft fuer mehr als eine Stunde ein Programm, in dem eine etwas rauhe Frauenstimme auf persisch dramatische Texte vortraegt. Das ganze ist mit leichter persischer Musik unterlegt und schlaegt die beiden Busfahrer in seinen Bann. Obwohl ich kein Wort verstehen kann, klingt das ganz sehr huebsch und passt zu der draussen vorbeiziehenden, etwas monotonen Landschaft. Gleiches hatte ich schon im Bus von Maschhad nach Tehran erlebt, und spaeter ebenfalls in einem Tehraner Taxi. Zuerst konnte ich mir keinen Reim auf diese Sendungen machen, aber dann hatte mir Nils, der junge deutsche Diplomat aus Tehran, ihren Sinn erklaert: es handelt sich um den Vortrag alter persischer Gedichte. Die Iraner lieben Poesie, und vor allem die alten persischen Dichter wie etwa Hafez. Manchmal, so hatte mir Nils erzaehlt, singen die Taxifahrer sogar leise Hafez-Verse vor sich hin. Das Land beginnt mir immer zu gefallen, je laenger ich hier bin. Zudem kann ich mir keinen deutschen Busfahrer vorstellen, der begeistert eine Eichendorff-Lesung mit leichter Klassikbegleitung in seinem Bus laufen laesst, oder Taxifahrer, die etwas von Walther von der Vogelweide vor sich hinsummen, obwohl letzteres in Berlin natuerlich nicht ganz ausgeschlossen ist.

Mit der Hilfe zweier Studenten finde ich das "Hotel Maschhad" in der Naehe des Basars. Das schoene im Iran ist, dass man sofort von freundlichen Passanten oder Mitpassagieren Hilfe angeboten bekommt, wenn man suchend auf einen Stadtplan schaut oder einen verlorenen Eindruck macht. Es ist wirklich ganz wunderbar.

Das "Hotel Maschhad" hat ein kleines Cafe, und ich ueberlege bei einem Fruehstueck, ob ich mich nicht lieber gleich nach Bazargan an der tuerkischen Grenze aufmachen soll, da es noch relativ frueh am morgen ist. Zwar wirkt Tabriz vom ersten Eindruck her recht anziehend, aber eigentlich habe ich genug von Staedten und der Routine Bus-Stadt-Hotel. Am liebsten wuerde ich eine Wanderung machen oder zelten, und deshalb zieht es mich nach Dogubayazit zu dem Campingplatz, von dem der kanadische Radfahrer in Eshafan erzaehlt hatte. Schliesslich entschiesse ich mich doch fuer eine Nacht in Tabriz zu bleiben und am naechsten morgen sehr frueh zu starten.

Am Nachmittag gehe ich durch den riesigen Basar, der insgesamt ueber drei Kilometer lang und eine kleine Stadt fuer sich ist. Basar bedeutet, dass sich die Geschaefte in verwinkelten Gassen oder vielmehr Gaengen befinden, die von spitzen Steingewoelben ueberdacht sind. Das ganze sieht fast gotisch aus, so als ob in einem Seitenschiff den Koelner Doms ploetzlich eine Geschaeftsstrasse entstanden waere. Aehnlich wie im Koelner Dom herrscht auch hier Hochbetrieb, Leute mit Transportkarren und manchmal auch auf Motorraedern draengen sich durch die Menge, und man muss aufpassen, nicht umgefahren zu werden. Dafuer gibt es alles zu kaufen, Granataepfel, Teppiche, Ladentheken, Wasserpfeifen, Spitzhacken, Goldketten, einfach alles, und bestimmt auch das im Iran so beliebte, weil illegale "Tuborg Super-Strong".

 

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