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Der Zug nach Lanzhou, dem oestlichen Ende der Seidenstrasse, verlaesst Chengdu um zwei Uhr mittags und braucht genau einen Tag. Nach einigen Stunden haben wir die Ebene von Sichuan verlassen, die Landschaft wird immer bergiger und wird gegen Abend fast alpin. Die Fluesse bekommen allmaehlich wieder natuerliche Farben, und die wenigen, grauen Siedlungen druecken sich an die Flussufer oder an das Bahngleis.

Am naechsten Morgen geht die Sonne mit einem klaren und unverkennbar noerdlichen Licht auf; hier wird mir klar, wie weit ich mich raeumlich bereits vom halbtropischen Hong Kong entfernt habe. Das noerdliche Licht laesst alles blauer, klarer, haerter und kontrastreicher erscheinen als in Suedchina, und aus irgendeinem Grund wirkt dies auch chinesischer als das warme tropische Licht im Sueden. Die Haeuser haben klassische chinesische Daecher mit kleinen Drachenfiguren an den Giebelenden und sind aus dem Lehm der Gegend erbaut. Lanzhou selbst liegt schliesslich in einem langestreckten Tal, durch das sich der Gelbe Fluss zieht, der hier, soweit im Westen, noch relativ klein ist.

Ich ueberquere den Bahnhofsvorplatz zum "Lanzhou Fazha"-Hotel, einem der ueblichen grossen, etwas nachlaessig betriebenen Hotels an chinesischen Bahnhoefen. Der Bahnhofsvorplatz in Lanzhou wirkt klein, uebersichtlich und fast schon vertrauenserweckend, im krassen Gegensatz zu seinen Kollegen in Guangzhou oder Chengdu.

Im "Fazha" treffe ich Tim, einen jungen englischen Journalisten, der fuer einige Monate in Peking fuer die "China Daily", Chinas englischsprachiges Parteiorgan arbeiten wird, und vor Arbeitsbeginn eine Reise nach Westchina unternimmt.

Obwohl die ueblichen Reisefuehrer Lanzhou eher nur als notwendige Durchgangsstation zu den ueblichen touristischen Zielen wie dem westlichen Ende der chinesischen Mauer beschreibt, hat die Stadt unzweifelhaft einen gewissen Charme, der vielen anderen Staedten in China fehlt. Die breiten, staubigen Strassen sind von Baeumen gesaeumt, die destruktive, ufo-artige Hochhaeuser hervorbringende Bauwut ist bisher ausgeblieben, und die Bewohner sind freundlich und gelassen. Alles hat schon einen unverkennbar muslimischen Einschlag, viele tragen tuerkisch aussehende Wollmuetzen, und es gibt ueberall Fladenbrot zu kaufen. Die Stadt laesst bereits die Naehe zur Wueste erahnen: alles ist gelb und ein bisschen sandig. Ich mag Lanzhou eigentlich sofort.

Im Buero von "China Eastern Airlines", in dem sich Tim ein Flugticket von Dunhuang, einer fuenfzehn Stunden entfernten Wuestenoase zurueck nach Peking buchen will, ereignet sich eine klassische chinesische Verkaufsszene:

T: Kann ich das Ticket mit Kreditkarte bezahlen?
China Eastern: Nein, das geht nicht.
T: Visa-Card?
CE: Nein.
T: Ich habe aber kein Bargeld dabei?
CE: Dann muessen Sie zur Bank gehen. Die hat jetzt schon geschlossen.
T: Wann macht die Bank morgen auf? Ich nehme morgen schon um 9:30 Uhr einen Zug nach Dunhuang.
CE: Die Bank macht morgen um zehn auf.
T: Kann ich das Ticket dann vielleicht reservieren und dann uebermorgen in Dunhuang abholen?
CE: Nein, das ist unmoeglich. Das geht nur hier.
T: Das heisst, ich kann das Ticket nur hier bezahlen?
CE: Ja.
T: Kann ich das Ticket also nicht hier reservieren, dann mit der Reservierung in Dunhuang zu "China Eastern Airlines" gehen und dort bezahlen? Wo doch nur noch drei Plaetze im Flugzeug frei sind?
CE: Nein, das geht nicht. Unmoeglich.
T: Das heisst, ich kann das Ticket jetzt nicht bezahlen?
CE (freundlich und bestimmt): Sie koennen das Ticket nur hier in Lanzhou bezahlen.
T: (wiederholt)
CE: (wiederholt)
T: ...
CE: ...
T: Hmm...
CE (schweigt)
T (etwas verzweifelt, zeigt CE die bereits bezahlte Fahrkarte nach Dunhuang fuer den naechsten Morgen): Ich habe schon diese Fahrkarte, die ich nicht mehr umtauschen kann. Es gibt nur noch drei Plaetze im Flugzeug. Ich kann hier in Lanzhou kein Geld bekommen, weil alle Banken geschlossen haben. Koennen sie nicht das Ticket reservieren, und ich es dann in Dunhuang abholen und bezahlen?
CE: Einen Moment - (tippt etwas in ihren Computer, druckt etwas aus, wendet sich nach dreissig Sekunden wieder T zu) Nehmen Sie diesen Zettel, gehen sie damit zu unserem Buero in Dunhuang und bezahlen, die stellen ihnen dann das Ticket aus - ja, die Reservierung gilt verbindlich ab sofort - nein, es kostet nicht mehr...

Lanzhou hat keine Sehenswuerdigkeiten im klassischen Sinne von Tempeln oder Moscheen zu bieten, verfuegt dennoch aber ueber einige Attraktionen. Zu ihnen zaehlt in erster Linie der Besuch des sagenhaft trashigen sozialistischen Vergnuegungsparks auf einem der Berge ueber der Stadt.

Man erreicht den Vergnuegungspark mit einem relativ neuen Sessellift, von dem man eine phantastische Aussicht ueber die Stadt hat. Die Talstation ist relativ schwer und nur durch Herumfragen zu finden und wird durch ein Labyrinth von kleinen, betriebsamen Gassen von der Hauptstrasse abgeschirmt. Wir erreichen die Station schliesslich etwa eine dreiviertelstunde vor Sonnenuntergang.

Genau auf dem Gipfel des Berges steht eine alte, dreistoeckige Pagode. Von ihr ist der Ausblick spektakulaer: der westliche Horizont ist bereits tieforange, und der Gelbe Fluss zieht sich als gleissendes Band, von wuestenhaften Bergen umgeben, bis hinter den westlichen Horizont. Hier ist, ploetzlich plastisch sichtbar, wirklich der Beginn der alten Seidenstrasse.

So kurz vor Sonnenuntergang und an einem Montag abend ist der Vergnuegungspark fast leer. Am Eingang gruessen ein riesiger Kosmonaut aus Beton und etwa ein Dutzend Leute, die vor Betriebsschluss schnell noch ein paar Trips auf ihrem Kamel verkaufen wollen. Wir lehnen dankend ab und schauen uns die hellrosa Comic-Interpretation von Schloss Neuschwanstein an, die um diese Tageszeit und an diesem Ort hier ganz besonders fremdartig wirkt. Wir sind fast die letzten Gaeste. Ausser dem Schloss und dem Kosmonauten gibt es ein kleines Riesenrad, eine Rodelbahn und ein Karussell mit Raumschiffen, die jedoch alle schon geschlossen haben. Mitten in einem nahen Geroellfeld stehen, beschienen von der untergehenden Wuestensonne, zwei kaputte Billiardtische und ein paar rostige Schaukeln. Aus den ueberall im Park aufgestellten Lautsprechern, die genauso so ausehen, als seien sie frueher zum Abspielen von Mao-Slogans verwendet worden, ertoent jetzt russisch klingender Tekno. Gesaeumt ist die kleine Haupstrasse des Parks von leeren Teehaeusern, deren Betreiber bei unserem Herannahen uns schon weitem zu einem Abendessen bei ihnen einladen. Wir wenden uns lieber dem Stand zu, bei dem man mit einem Plastik-Maschinengewehr Luftballons zum zerplatzen bringen kann. Etwas Unmut kommt auf, als die Besitzerin des Maschinengewehres am Schluss behauptet, sie haette mit "einem Yuan" einen Yuan PRO SCHUSS gemeint. Die Sache laesst sich jedoch, wie vermutlich alles in China, durch Verhandlungen loesen.

Eines der Teehaeuser direkt neben Neuschwanstein hat eine Terasse mit Liegestuehlen und Blick ueber das Flusstal. Die Sonne geht unter ueber dem westlichen Ende der Seidenstrasse. Dort hinten, hinter der Erdkruemmung, liegt irgendwo Istanbul. Kaum zu glauben, wirklich.

Auf dem Busbahnhof in Chongqing wirbt die Busfirma mit dem Slogan "Come with happiness, return with satisfaction". Die Busfahrt nach Chengdu jedenfalls dauert nur knapp vier Stunden und fuehrt durch die flache und dichtbesiedelte Provinz Sichuan, die vom Busfenster aus betrachtet nicht besonders exotisch aussieht. Bei Einbruch der Dunkelheit erreichen wir Chengdu, die Provinzhauptstadt.

Chengdu ist etwas kleiner als Chongqing, und wirkt darueber hinaus nicht monstroes, sondern ruhiger und zurueckhaltender. Der Hauptplatz von Chengdu wird von einer etwa zehn Meter hohen, weissen Mao-Satue ueberragt, die mit einem guetigen Laecheln ueber den Platz winkt. Eingerahmt ist das ganze von entsprechend roten Blumen.

Die vergangenen Tage waren extrem anstrengend, und ich kann mir noch immer nicht vorstellen, wirklich auf der Reise nach Berlin zu sein. Nach laengeren Verhandlungen mit einem Taxifahrer und dem Wechsel von einem ausgebuchten Hotel in ein anderes brauche ich jetzt auch Ruhe, sofort. Sie findet sich schliesslich in einem billigen Hotel namens "Hollie's Hostel", bei ein paar beers mit Dietmar, einem Deutschdozenten aus Jilin, und ein paar Englaendern, von denen der eine in Wirklichkeit aus Neubiberg kommt.

Am naechsten Tag treffe ich zufaellig Ryan, einen Bekannten aus Hong Kong, in der Lobby des Hotels. Wir hatten uns eigentlich im weiter noerdlich gelegenen Lanzhou treffen wollen. Ryan war als freelance-Photojournalist monatelang in Zentralasien und im Iran unterwegs, und ist voller Geschichten und Informationen, an denen er mich abends, ebenfalls bei ein paar beers, teilhaben laesst. Ein bisschen Hong Komg-Heimweh-Stimmung kommt auf, und wir sitzten in der Lobby, bis der alte Mann, der den Kuehlschrank bedient, auf seinem Stuhl eingeschlafen ist.

Vor meiner Abfahrt nach Lanzhou am Tag darauf gehe ich in den Park auf der anderen Strassenseite und finde unvermittelt das alte Chengdu: im Park befinden sich die beruehmten Sichuaner Teehaeuser, die ihrer Idee nach den alten europaeischen Kaffeehaeusern entsprechen. Unter Baeumen sitzten zumeist alte Maenner und spielen Mahjong, trinken Tee, lesen stundenlang Zeitung, debattieren, rauchen Pfeife, und strahlen alle eine Mischung aus Ruhe, Weisheit und Gediegenheit aus, die genau so ist, wie man sich das alte China immer vorstellt.

Chongqing ist, wie ich bei der Ankunft merke, ein gigantischer post-sozialistischer Alptraum in Beton und Neon. Die Luftverschmutzung ist unbeschreiblich und scheint noch staerker als in Peking zu sein: auch nur einen Kilometer entfernte, vermutlich gestern fertiggestellte Hochhaustuerme sind in der Dunkelheit nur umrisshaft durch den Dunst zu erkennen. Dazwischen blinken Neonschriftzeichen und Werbetafeln, alles erinnert aus der Ferne an einen Science Fiction Film eher weniger erheiternden Inhaltes. Willkommen im neuen China.

Ein Taxifahrer bringt mich, ohne groessere Umwege zu fahren, in das Huxianlou Hotel in der Innenstadt. Es liegt in der neugestalteten Fussgaengerzone und ist eigentlich recht freundlich. Als ich an der Rezeption nach dem in meinem Reisefuehrer beschriebenen Nachtmarkt frage, treffe ich einen jungen Kanadier namens Richard, und wir machen uns gemeinsam auf die Suche nach Nachtmarkt und - endlich - einem Abendessen.

Der Nachtmarkt musste offenbar der brandneuen Fussgaengerzone weichen, dennoch finden sich in der "8-1-Strasse", parallel zur Hauptstrasse, noch ein paar Staende. Das Essen ist typisch szechuanesich mit viel Chili und wirklich ausgezeichnet. Wir trinken dazu ein Chongqing-Beer, und dabei erzaehlt Richard ueber seine Studie ueber die Auswirkungen des von Chongqing Jangste-abwaerts liegenden Drei-Schluchten-Staudammes, den er wenige Tage zuvor im Rahmen einer fuer ihn von seiner Universitaet in Toronto arrangierten Besichtigung besichtigt hat. Die Fakten sind, ihm zufolge, absolut schockierend.

Die bereits armtiefen Risse in der Staumauer sind angesichts der Wandstaerke, 150 (!) Meter am Fundament und 100 Meter an der Dammkrone, wohl noch hinnehmbar. Weniger beruhigend ist da schon eher der Umstand, dass der Damm mehr oder weniger direkt auf einer tektonischen Bruchlinie und damit mitten in einem Erdbebengebiet steht. Bricht der Damm, so geht das Planspiel, sterben bereits in den ersten zehn Minuten zehntausend Menschen in den Wassermassen, deren Oberflaeche, so Richard, der Groesse Taiwans entspricht. Die den dann den Jangste hinabspuelende Welle erreicht und zerstoert schliesslich Shanghai. Angeblich haben alle entsprechende "missiles" besitzende Atommaechte bereits fuer den Fall der Faelle ein paar neue Zielcodes ins Programm und damit den Damm ins Visier genommen, und die taiwanesische Regierung laesst angeblich gegenueber Peking verlauten, im Kriegsfalle wuerde es zumindest ein Flugzeug bis an die Dammwand schaffen. Schaurig. Viel unmittelbarer sind jedoch sie unmittelbaren Folgen der fast beendeten Flutung: Millionen von ehemaligen Flussanwohnern sind umgesiedelt worden, und viele von ihnen landen hier in Chongqing, dem industriellen Zentrum am Oberlauf des Jangste. Ploetzlich verstehe ich auch, warum so viele Bettler in den Strassen zu sehen sind.

Trotz aller duesterer Aussichten ist die Fussgaengerzone aber ein angenehmer Ort zum Sitzen. Nach dem Essen wechseln wir hinueber in eine Art Strassencafe und treffen dort auf ein paar Auslaender, zwei Englaender und ein Amerikaner, bei einer "drinking session". Auch hier geht es, wie anscheinend ueberall in Chonqing, um den Damm. Der Amerikaner kommt aus Santa Barbara und arbeitet in Chongqing fuer den "Discovery Channel", die beiden aelteren Englaender sind Englischlehrer und wirken ein bisschen gestrandet in Chongqing. Kein Vergleich zu Bangkok, erzaehlt der eine mir, kein Vergleich. Dieses Cafe sei das Zentrum des nightlife in Chongqing, immerhin einer Stadt mit zehn Millionen Einwohnern, und wir sind mitten drin. Die Stimmung ist jedoch unbestrittenermassen grossartig, zmindest heute abend.

Auf dem Rueckweg gegen halb zwei kommen wir an einem Laden der Hong Konger Kleidungskette "Baleano" - einer Art H&M - vorbei, indem gerade eine Putzkolonne saubermacht. Spontan kaufen wir ein paar Hemden, die im Sonderangebot sind, und bezahlen bei der Putzkolonne. Nicht ganz klar ist, ob die Putzkolonne die Hemden jetzt - rein technisch gesehen - geklaut hat, zumal ja alle anderen Geschaefte in der Fussgaengerzone schon seit Stunden geschlossen haben. Aber sie packen es zumindest ordentlich in Baleano-Tueten und wuenschen uns noch einen schoenen Abend.

Am naechsten Morgen erwache ich mit Kopfschmerzen, wahrscheinlich verursacht durch eine teuflische Mischung aus Chongqing-Beer und Chongqing-Air. Trotzdem haelt meine Hoch- und Reisestimmung an. Draussen ist alles grau, am Fenster steht einer der anderen Gaeste des Achtbettzimmers und starrt, zumindest scheint es so, fassungslos in den verschmutzten grauen Himmel ueber der Stadt.

Nach einem etwas freudlosen, aber im Preis inbegriffenen Hotelfruehstueck beschliesse ich ein paar Sachen einzukaufen, da es draussen leicht regnet und es daher nicht zum herumlaufen einlaedt.

Auf dem Weg durch die Fussgaengerzone haenge ich der alten Frage nach, was eigentlich an China so faszinierend ist, da das Land zu bereisen ungeheuer anstrengend und mitunter frustrierend ist. Ploetzlich werde ich von einem freundlichen, aelteren Mann angehalten, der ein paar Schritte auf mich zugelaufen kommt und dabei "Sorry, Sorry" ruft. Er haelt mir einen Zettel unter die Nase, auf dem die Worte "Mike Tyson" und "Evander Hollyfield" stehen. "Ho-li-fiel-te?" liest er angestrengt und schaut mich fragend an. "Ho-li-fi-te??"

Wegen des Regens habe ich beschlossen, spaeter am Nachmittag den Bus nach Chengdu zunehmen. Gegen Mittag hoert der Regen jedoch auf, und ich verlasse die Fussgaengerzone. Nach ein paar hundert Metern finden sich alte, baumbestandene Strassen mit flachen Haeusern, das alte Chongqing. Hier ist noch der alte, fast doerfliche Charme alter chinesischer Staedte zu finden, mit kleinen Laeden, Handwerksgeschaeften und Garkuechen.

Chongqing liegt am Zusammenfluss zwischen dem Jialing-Fluss und dem Jangste, und das Zentrum liegt auf einer bergigen Halbinsel hoch zwischen den beiden Fluessen. Auf meiner Karte ist nicht weit vom Hotel eine Seilbahn ueber den Jangste eingezeichnet.

Die Seilbahn, so stellt sich wenig spaeter heraus, ist eine alte Bahn mit zwei Gondeln, so wie in den Alpen. Der Eingang liegt etwas versteckt zwischen Wohnhaeusern. Die Station ist alt und ist etwas verblasst, aber mit schoenen alten schmiedeeisernen Balkongittern versehen, im Innenhof hinter dem Eingang stehen Blumen und ein kleiner Holzkaefig mit Kanarienvoegeln. Aus irgendeinem Grund stelle ich mir vor, dass es in Lissabon so aehnlich aussieht wie hier. Ein dunkles Treppenhaus fuehrt an den Bahnsteig, von dem man aus einen Blick auf den tief unten liegenden Jangste und das andere Ufer hat, das fast im Dunst verschwindet. Nur ein paar schweigsame aeltere Maenner rauchen Zigaretten und warten auf die Bahn. Vor dem Balkongitter steht eine kleine Zementwanne mit Goldfischen darin.

Am anderen Ufer endet die Bahn mitten in einem verfallenden, gruenen Wohngebiet. Der Blick von hier, und die ganze Athmossphaere, sind absolut surreal: die Strassen sind leer und es ist fast still, nur die Schiffe untem am Jangtse tuckern monoton hinauf. Der unfassbar verschmutzte Himmel ist gelb und taucht alles in ein gelblich-fahles Licht. Hinter der alten Station steht ein alter, schiefer, niedriger Fabrikschlot zwischen wild wachsenden Baeumen. Alle Haeuser ausser der verblassenden Station sind grau, vor den Fenstern haengen Waesche und vereinzelt Vogelkaefige. Der Fluss, tief unten, ist unglaublich breit, braun, und die Ufer sind von Muell gesaeumt. Ein einzelner Angler mit einem Strohhut sitzt am Wasser. Auf der anderen Seite liegt, getruebt durch die Luft, das Zentrum von Chongqing hoch auf dem Berg; es sieht fast wie eine Festungsstadt aus. Aus ihr ragen Hochhaeuser mit runden Ufo-artigen Aufsaetzen und Antennenmasten.

In der Station mache ich ein Foto von einem alten Mann und seinen beiden Enkeln, und dann fotografiert jemand anders die beiden Kinder und mich. Wir warten auf die Bahn zurueck. Ein juengerer Mann in einem Trainingsanzug kann etwas Englisch, und er brennt darauf, seine Sprachkenntnisse mal in einer echten Situation auszuprobieren. "Deutschland - sehr entwickeltes Land", sagt er. "China nicht so entwickeltes Land. China hat noch einen langen Weg zu gehen".

Gegen vier Uhr nehme ich den Bus nach Chengdu.

Nach einer knappen Stunde erreiche ich Guangzhou, frueh genug um den Zug nach Chonqing zu erreichen. Dieser faehrt von der alten Bahnstation, die mit dem neuen Terminal fuer die Expresszuege aus Shenzhen mit einer neuen Ubahn verbunden ist. Trotz der fruehen Stunde fuehle ich mich halbwegs ausgeschlafen. Die Tatsache, dass ich mich, hier im Berufsverkehr in der Ubahn in Guangzhou, gerade auf meiner Heimreise nach Berlin befinde, kommt mit alles andere als vorstellbar vor. Ich nehme an, dass es Tage dauern wird, um das ganz zu verstehen. Glauben wuerde es mir hier in der Ubahn sowieso niemand.

Der Bahnhofsvorplatz ist an drei Seiten von Schnellstrassen umgeben und riesenhaft. Das Bahnhofgebaeude selbst ist ein alterndes, graues, unverkennbar sozialistisches Gebaeude, an dessen Dachkante eine Parteiparole in grossen roten Schriftzeichen verkuendet wird.

In einem Reisefuehrer wurde er einmal als eine Art Vorhof der Hoelle beschrieben. Auf dem Platz sitzen hunderte, wenn nicht tausende Menschen auf zumeist einfachsten Gepaeckstuecken und warten, anscheinend tagelang. Viele von ihnen sind sogenannte "drifters", die auf der Suche nach Arbeit durch ganz China treiben. Ein Polizist auf einem Motorad, eine unvermeidliche riesige Cop-Sonnenbrille tragend, macht Jagd auf einen abgerissen aussehenden Getraenkeverkaeufer. Der Mann rennt durch die Menge, laesst schliesslich sein Paket mit den Getraenken fallen, die sofort von anderen Getraenkehaendlern aufgesammelt werden, dann beginnt eine Ansammlung von Leuten der Polizei zu drohen; trotzdem wirkt alles wie eine alltaegliche, eingespielte Szene. Schnell ein paar Photos machen? Lieber nicht.

Im Bahnhofgebaeude, dass man nur mit einer Fahrkarte betreten kann (was auch die Wartenden auf dem Vorplatz erklaert), kaufe ich ein paar Sachen fuer untwegs. Zug faehrt um elf Uhr in Guangzhou los und kommt um acht Uhr abends in Chongqing an - am naechsten Tag, leider. Statt Wechselgeld gibt mir die Verkaeuferin eine handvoll Lychees.

Dann geht es los. Die Landschaft in Guangdong, der Guangzhou (Kanton) umgebenden Provinz ist flach und wenig markant, schon bald beginnt es leicht zu regnen. Getaeuscht durch die Klimaanlage, die einen unbewusst auch eine kuehle Aussentemperatur annehmen laesst, wirken die traege dahinziehenden Huegel und Felder fast wie ein Herbsttag in der norddeutschen Tiefebene.

Am naechsten morgen erreicht der Zug die Provinz Guizhou, ein bergiger, duenn besiedelter und rueckstaendig wirkender Landstrich. Hier ist nichts von den neuen Industrieanlagen und Gewerben wie in den Kuestenprovinzen zu sehen, hier wechseln sich vereinzelte russschwarze, verfallene Industrieanlagen mit grauen Doerfern ab. Dennoch hat die Gegend einen wilden, rauhen Charme, zumindest vom Zugfenster aus betrachtet. Hier spielen die alten, klassischen chinesischen Raeubergeschichten wie "Die Raeuber vom Liang Shan-Moor", Mao Zedongs erklaertem Lieblingsbuch. Nach Einbruch der Dunkelheit erreichen wir schliesslich die Aussenbezirke von Chonqing. Nachdem ich fast den ganzen Tag ueber geschlafen habe, fuehle ich mich jetzt ausgeruht, und langsam wird mir auch klar, dass ich jetzt wirklich auf der Reise bin. Langsam.

Es nicht schoen, Hongkong zu verlassen, schon gar nocht um 6 Uhr morgens, aber nun. Ich gehe das letzte mal, zumindest als Anwohner, durch das "Festival Walk" Einkaukszentrum, deren Laeden noch geschlossen haben und in dem alles fuer den kommenden Tag auf Hochglanz gebracht worden ist. Hinter dem "Festival Walk" befindet ist die S-Bahn Station der Linie nach Shenzhen, und ich nehme den naechsten Zug.

Den eigentlichen Abschied von Hong Kong, einer der zweifellos grossartigsten Staedte der Welt, hatte ich schon in der Woche vor meiner Abreise genommen, und die S-Bahnfahrt nach Shenzhen ist nun fast nur mehr der letzte Akt, das koerperliche Entfernen aus Hong Kong. Trotzdem geraet die Fahrt ein wenig melancholisch, zumal gerade ueber dem Tai O Shan-Berg die Sonne aufgeht, und alle ausser mir in der S-Bahn zu schlafen scheinen. So vergehen 30 Minuten bis zur Grenze. Abschied ist, um die oft gebrauchte Redensart noch ein weiteres mal zu gebrauchen, eben wie ein bisschen sterben, meine Guete, ja.

Jenseits der Grenze kann jedoch von Sterben keine Rede sein: jeder Besucher, so auch ich, wird beim Verlassen der chinesischen Grenzstation schlagartig mit der "market economy with chinese characteristics" konfrontiert, die allerhoechste Aufmerksamkeit erfordert. Die Grenze zwischen Hong Kong und Shenzhen ist die Grenze zwischen zwei Welten: auf der einen Seite ist das westliche, saubere, ultramoderne, verstaendliche, perfekt funktionierende Hong Kong, und auf der anderen Seite eben ein nur schwer durchschaubares, der griechisch-okzidentalen Auspraegung von Logik nur bedingt unterworfenes System aus Betonstaedten, Esstaenden, Volkswagen-Santanas, Handygeklingel und vielen, vielen Menschen, die fast alle gerne in den naechsten zehn Jahren so richtig reich werden wollen.

Auf dem Weg zum Bahnhof Shenzhen liegt rechts das beruechtigte Luo Wu Shopping Center, das vermutlich von der Polizei betrieben wird und in dem man eine hervorragend verarbeitete "Lange & Soehne" fuer zehn Dollar bekommt, oder eine Rundumausstattung von Microsoft-Programmen fuer fuenf Dollar. Die meisten Hong Konger sind niemals ueber das Shopping-Center hinausgekommen, ausser sie betreiben Geschaefte oder Fabriken in Shenzhen. Shenzhen ist innerhalb von 20 Jahren von 15 Tausend auf sieben Millionen Einwohner gewachsen, von denen sich mindestens die Haelfte illegal in der Stadt aufhaelt. Kein allzu einladender Ort, vor allem um sieben Uhr morgens. Ich nehme den naechsten Expresszug nach Guangzhou.

 

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