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Dank des Busfahrers, der morgens einfach nicht auftaucht und dafuer alle Grenzoffiziere gut zu kennen scheint, dauert es bis Mittags, bis wir die Grenzabfertigung passiert haben. Die jungen Grenzer scheinen von der Passlese-Software keine Ahnung zu haben, und so dauert die Ausreise pro Person etwa fuenf Minuten. Dabei kann ich einen Blick auf den Bildschirm werfen, auf dem alle meine gespeicherten Daten erscheinen; das ganze sieht ziemlich detailliert aus.

Von der Grenzabfertigung faehrt der Bus einen braunen Flusslaufentlang bis zur eigentlichen Grenzlinie; ein chinesischer Soldat kontrolliert erneut die Paesse. Auf einen Berghang ist mit bunten Steinen eine riesige chinesische Flagge gelegt. Neben einem Wachturm steht ein brandneuer Jeep, und neben einer Gruppe von olivgruenen Grenzern steht ein einzelner, westlicher Fahrradfahrer neben seinem Mountainbike. Er ist anscheinen soeben aus Kirgisien heruebergekommen, und die Grenzer wirken etwas ratlos.

Dann rollt der Bus etwa hundert Meter weiter und haelt neben rot-gelben Grenzpfaehlen und einem niedrigen elektrischen Zaun mit Stachendraht oben drauf, der mehr wie ein Weidezaun aussieht, dahinter steht eine baufaellige Baracke, vor der ein paar Gestalten in Uniform Waesche einem Bach waschen und Fussball mit einer Plastikflasche spielen. Der erste kirgisische Posten. Fuer zwei Stunden passiert, aus unerfindlichen Gruenden, absolut nichts.

Nachmittags, wir haben zu diesem Zeitpunkt etwa fuenf Kilometer zurueckgelegt, faehrt der Bus einen weiteren Kilometer bis zu einer alten, vollkommen heruntergekommen kirgisischen Grenzstation. Auch hier dauert es Stunden, bis alle ihren Stempel im Pass haben. Vor der Grenze stauen sich Lastwagen, die alle Eisenschrott geladen haben; anscheinend das einzige Exportgut des Landes nach China.

Einer der Grenzer, der ein wenig englisch spricht, traegt eine brandneue Uniform offenbar amerikanischer Herkunft und eine riesige schwarze Sonnenbrille. Er ist hoechstens neunzehn Jahre alt, und das ganze wirkt wie eine Karnevalsverkleidung. Schwarze Cop-Sonnenbrillen sind bei unserioesen Amtstraegern auf der ganzen Welt beliebt, warum auch immer, vermutlich liegt das an Hollywood und an “Top Gun”.

Am spaeten Nachmittag fahren wir weiter und halten wieder nach fuenf Kilometern, diesmal macht der Busfahrer Pause. Schliesslich fordert der finnische Pastor alle zum Weiterfahren auf und bezeichnet die Leute in lautem Russisch als “Egoisti”, die Stimmung ist schlecht, und im Bus haben sich Einheimische und Touristen in zwei Gruppen gespalten. Ich denke an meine Busfahrt nach Kashgar, und beschliesse, in Osh mich so schnell wie moeglich von der Gruppe zu trennen. Die Strasse ist schlecht, die Aussicht dafuer phantastisch. Ploetzlich ist alles viel gruener als auf der chinesischen Seite, und vereinzelt sind Hirten mit ihren Tieren zu sehen. Die ersten Ortschaften bestehen aus russisch aussehenden Holzhaeusern.

Wir erreichen Osh schliesslich gegen zwei Uhr morgens. Ich komme im “Hotel Sara” unter, und alles was ich von Osh sehe, sieht nach Birken und einer verschlafenen russischen Kleinstadt aus. Der Pfarrer wird mit seinen Gefolgsleuten am naechsten morgen nach Bischkek weiterfahren, aber ich bin zu muede um mich jetzt dazu entscheiden, mit ihnen morgen ein Taxi zu teilen.

Der Bus nach Osh in Kirgisien fahert nur Montags. Am Vortag, am Sonntag, waren Chester, zwei Schwestern aus Kyoto und ein paar andere Japaner, die weiter nach Afghanistan wollen, auf dem beruehmten Sonntags-Markt in Kashgar. Obwohl der Markt nicht besonders exotisch wirkt und daher anscheinend viele erwartungsfrohe Touristen enttaeuscht, finde ich ihn dennoch grandios: allein seine Groesse ist vermutlich einmalig, die Marktstrassen ziehen sich ueber Kilometer hin, und es gibt praktisch alles zu kaufen, was in China hergestellt wird. Angeblich kommen jeden Sonntag etwa 50.000 Besucher aus ganz Xinjiang extra fuer den Markt nach Kashgar.

Der Bus ueber den Pass faehrt etwa vier Stunden spaeter los, was diesmal nicht etwa an kirgisischen Haendlern mit Tonnen von Gepaeck liegt, sondern an dem Umstand, dass der Busfahrer, ein feister, untersetzter Typ, ein ganze Reihe von Geschaeften in eigener Regie betreibt. Angeblich warten wir auf ein paar Passagiere, die jedoch nicht aufzutauchen scheinen. Im Bus sind eine ganze Reihe Auslaender: neben zwei Japanern (einer von ihnen ist fuer drei Jahre unterwegs und will weiter nach Kabul und Kandahar) ist ein finnischer Pastor mit seinem Neffen und zwei Glaubensbruedern mit rumaenischen und kirgisischen Papieren unterwegs; zuerst halte ich ihn fuer einen Lehrer, weil er dem kirgisischen Mitreisenden den englischen Satz “I love to read the bible” beibringt. Hier in den Bergen scheinen eine ganze Reihe Missionare unterwegs zu sein.

Die Strasse von Kashgar nach Irkeshtam, dem Grenzuebergang zwischen China und Kirgisien, ist neu angelegt worden. Wegen der grossen Verspaetung erreichen wir Irkeshtam gegen sechs Uhr abends Pekinger Zeit (vier Uhr Xinjiang Zeit), und die Grenze hat geschlossen. Ein russisch sprechender chinesischer Offizieer (der finnische Pater lebt in Usbekistan und spricht end perfekt russisch) erklaert uns, dass wir nicht etwa zu spaet dran sind, sondern dass die Grenze bereits den ganzen Tag geschlossen war, denn gestern war der kirgisische Nationalfeiertag, und deshalb wuerden heute die kirgisischen Grenzer ihren Rausch ausschlafen, da sei leider nichts zu machen. Wir muessen bis morgen warten. Der feiste Busfahrer behauptet von nichts zu wissen und nichts gewusst zu haben, was natuerlich glatt gelogen ist. Allmaehlich beginnen alle ihn wirklich unsympathisch zu finden.

Irkeshtam ist buchstaeblich der letzte und westlichste Aussenposten des chinesischen Universums. Auf ueber 3000 Metern gelegen, sind auch hier die Berge braun und hoch, und in der Ferne, offenbar schon in Tadschikistan, ist der schneebedeckte Hauptkamm der Fan-Berge zu sehen.

Anscheinend erwarten die Chinesen eine erhebliche Zunahme des Verkehrs, denn das Grenzabfertigungsgebaeude ist gross und ganz neu. Anonsten scheint auch an anderen Stellen investiert zu werden, zumindest sind ein paar Bautafeln aufgestellt, und an den windigen Strassenecken stehen wohlgestaltete Telefonhaeuschen der “China Telecom”. Die urbanen Telefonhaeuschen wirken hier oben in Irkeshtam jedoch vollkommen grotesk: die uebrigen Gebaeude sind notduerftig zusammengezimmert, neben den drei Strassen liegt ein gigantischer Schrottplatz, und die einzigen Menschen in den Strassen sind Grenzsoldaten und ein paar abgerissen aussehende Maenner.

Die Japaner und ich haben unser chinesisches Geld fast vollkommen ausgegeben, da wir nicht mit dem Stopp gerechnet hatten. Wir fragen solange herum, bis wir in einem Restaurant, das eigentlich nur ein leerer Raum mit zwei Tischen und einer Kochstelle ist, ein Abendessen bekommen. Statt einer Tuer ist eine Decke ueber die Tueroeffnung genagelt.

Die beiden anderen Gaeste, zwei aeltere chinesische Maenner, sind anfangs freundlich und schenken Tee nach. Jedoch laeuft gerade im Fernsehen ein chinesischer Propaganda-Spielfilm ueber das japanische Massaker in Nanking, und staendig werden in dem Film chinesische Frauen und Kinder von japanischen Offizieren erschossen. Das Essen kommt, und die Situation ist wirklich sehr unangenehm. Als wir zahlen und gehen, beginnt einer der Maenner einen meiner japanischen Mitreisenden zu beschimpfen und wird handgreiflich, der Wirt kommt aus der Kueche und beruhigt ihn. Wir verlassen den Raum und gehen zum Bus zurueck; es ist fast dunkel. Es gibt keinerlei Strassenbeleuchtung. Irkeshtam erscheint mit einem mal noch trostloser, verlassener und unangenehmer als zuvor. Wer hier freiwillig wohnt, muss in der Tat grosse Geschaefte erwarten, sonst gibt es eigentlich keinen Grund, hierzusein.

Hier oben, an der alten, hochsensiblen Grenze zur Sowjetunion, war jahrzehntelang die Welt zuende und die Strasse gesperrt, nur die Grenzposten belauerten sich von vorgeschobenen Wachtuermen entlang der Grenze. Von hier aus gesehen erscheint Kirgisien wie eine verwunschene Welt tief im Osten des untergegangenen Sojwetreiches. Die Nacht ist kalt und sternenklar.

Etwa um halb neun Uhr morgens sitze ich wieder auf der Terasse bei "John's" und esse ein tuerkisches Brot mit Honig und frischen Joghurt. Am Tisch neben mir sitzt ein, seinem Englisch nach unzweifelhaft aus Schwaben kommender Deutscher mit rasiertem Kopf und einem Schnauzbart. Er sieht aus, als sei er gerade von einem Rave gekommen, obwohl das in Kashgar praktisch ausgeschlossen ist, und trinkt in der Begleitung von John Hu ein Xinjiang-Bier. Offenbar ist er schon laenger in der Stadt, und scheint ein morgendlicher Stammgast bei "John's" zu sein.

Der Bus nach Tashkurgan, einer Stadt kurz vor dem Khunjerab-Pass, ist voll. Somit bleibt uns nur noch die Moeglichkeit, den Bus nach Gilgit in Pakistan zu nehmen, der den Pass ueberquert und am Karakul See haelt, wenn man dem Fahrer rechtzeitig Bescheid sagt. Der Bus soll um elf Fahren, und wir nehmen ein Taxi zur internationalen Busstation. Das VW-Taxi ist ganz neu und wird von einem hochmodernen, umweltfreundlichen Erdgas-Motor angetrieben, und ist daher hellgruen lackiert.

Am Busbahnhof wird klar, dass der Bus nach Pakistan zwar irgendwann fahren wird, jedoch nicht um elf Uhr. Vor dem Bus ist ein unfassbar grosser Gepaeckhaufen aufgestapelt, der zuerst so wirkt wie ein zentraler Lagerpunkt fuer die Fracht des gesamten Busbahnhofes. Jdoch fahren eine Reihe von anderen Bussen, ohne dass der Stapel kleiner wird, stattdessen kommt vorsichtig ein Lastwagen heranrangiert, von dem weitere Kartons uns neuverpackte Autoreifen abgeladen warden, die ebenfalls in, oder auf den Bus sollen. Bis auf zwei Japaner sind alle anderen Passagiere ausser uns pakistanische Haendler. Sie tragen alle diese grauen Kittel, die wie viel zu lange Hemden aussehen, und buschige Schnurrbaerte. Sie lassen sich von dem Gepaeckhaufen, zu dem auch ein gutes Dutzend neuer chinesischer Fahrraeder zaehlt, nicht aus der Ruhe bringen.

Das System funktioniert folgendermassen: weil es fuer den Bus ein Gepaecklimit gibt, muessen die Haendler einen anderen Weg finden, um ihre Fracht auf den Weg zu bringen. Der Ladevorgang wird von einem sehr dicken, chinesischen Uniformierten ueberwacht, der einen hochroten Kopf hat und von den pakistanischen Haendlern gefaltete 50 Yuan-Scheine entgegen nimmt. Immer, wenn das Aufladen ins Stocken geraet, gibt es ein heilloses Durcheinander, am Schluss bekommt der Uniformierte wieder ein paar 50 Yuan-Scheine zugesteckt, und das Verladen geht reibungslos weiter. Dabei wird die Fracht nicht von den Haendlern selbst, sondern von zwei uigurischen Gepaecktraegern aufgeladen, die die Kiste und Fahrraeder mit einem Seil auf das Busdach hieven. Weil dies zu zweit natuerlich viel zu lange dauert, versuchen die pakistanischen Haendler von Zeit zu Zeit selbst Hand anzulegen und das Aufladen zu beschleunigen. Die Gepaeckarbeiter werden jedoch von den Haendlern pro verladenem Gepaeckstueck bezahlt, und wehren sich daher gegen jegliche Einmischungen. Die Haendler, die auf offenbar auf Weisung des Uniformierten auf Fachkraefte, sprich auf die Traeger zurueckgreifen muessen, beschweren sich dann halbherzig und zuenden sich eine neue Zigarette an. Die Traeger, so erklaert uns Chester, bezahlen wiederum den Uniformierten, damit sie auf dem Busbahnhof arbeiten duerfen. Faszinierend – Korruption erscheint aus sich heraus immer logisch und nachvollziehbar. Nach fast genau drei Stunden ist fast alles verladen, und der Bus faehrt los. Er haelt jedoch an dem geschlossenen Tor des Busbahnhofs, fuer das auch nach zehn Minuten niemand einen Schluessel hat. Der Busfahrer ist sichtlich veraergert, und die Haendler richten sich fuer die zweitaegige Reise ein, und setzen ihre Kassettenrekorder mit pakistanischer Popmusik in Betrieb.

Etwas ausserhalb von Kashgar haelt der Bus mit geplatztem Vorderreifen. Der Fahrer hebt den Bus mit einem gefaehrlich aussehenden Wagenheber an, legt sich darunter und beginnt den Reifen zu wechseln. Nach einer weiteren Stunde ist – nach Xinjiang-Zeit – Mirragszeit, und wir halten zum Mittagessen in einem kleinen Dorf mit einem riesigen Melonenmarkt. Die Haendler decken sich mit Saecken voller Melonen ein, die sie im Mittelgang des Busses aufstapeln.

Interessant ist auch die Fracht, die die Haendler verladen haben: neben Fahrraedern und billigen Fernsehern aus chinesischer Produktion kaufen sie in in Kashgar massenhaft gebrauchte Kassenrekorder mit Doppelkassettendeck, die ihrem Aussehen nach aus den Achtziger Jahren stamen und landlaeufig anscheinend als “Boom-Boxes” bekannt sind. Ein Haendler erklaert, dass die Dinger auf dem beruehmten Sonntags-Markt in Kashgar fuer weniger als 60 Yuen, das sind etwa sechs Euro, zu haben sind und drueben in Pakistan mehr als das doppelte bringen. Die Seidenstrasse, die alte Handelsroute, ist alles andere als tot: jedoch werden heute nicht mehr Seide oder die Glasmachertechnik, sondern vor allem gebrauchte “Boom-Boxes” von einem Kulturkreis in den anderen transportiert.

Die Auffahrt in die Fan-Berge, wie die Gebirgskette hier heist, ist abenteuerlich. Hier sind die Berge noch einsamer, unwegsamer, zersplitterter, zerrissener und grossartiger als der Tian Shan Auslaeufer suedlich von Urumqi. Einmal ragt neben der Strasse eine bestimmt 80 Meter hohe Felswand senkrecht auf, an anderen Stellen war die Strasse anscheinend unlaengst von Geroellmassen verschuettet: dies scheint hier jedes Fruehjahr zu passieren. An einem verlorenen Checkpoint werden die Paesse kontrolliert; nach der besonderen Genehmigung fuer den Aufenthalt am Karakul See, die wir uns laut Reisebuero angeblich haetten besorgen muessen, fragt niemand.

Gegen Abend erreichen wir den tiefblauen See, der auf einer windigen Hochebene am Fusse der beiden Siebentausender liegt. Es ist kalt, und ich habe nur einen dicken Wollpullover und keine Jacke dabei. Abseits der Strasse stehen ein paar Jurten und ein niedriges, provisorisches Zementgebaeude, dass die englische Aufschrift “Karakul Resort” traegt. Wir steigen ueber einen Drahtzaun und laufen einem jungen Mann in die Arme, der uns eine grosse, extrabunte Eintrittkarte fuer das “Resort” verkauft. Am Seeufer grasen ein paar Pferde und Kamele. Ausser einer Gruppe russischer Bergsteiger sind wir die einzigen Gaeste.

Die Aussicht ist grandios: die hohen Berge, Gletscher, die baumlose, braune Ebene, beschienen von der tiefstehenden Sonne.

Die Nacht in der Jurte ist sehr kalt, und meine Erkaeltung kommt zurueck. Am naechsten Mittag ist es bewoelkt und regnerisch, fahre ich mit Chester in einem Taxi zurueck. Es kostet nur wenig mehr als der Bus, denn wir bezahlen den Fahrer direkt, waehrend die australische Touristin, die den Wagen gemietet hat, dem Reisebuero etwa das zehnfache ueberlassen hat. Wir versprechen dem Fahrer, ihr nichts zu verraten, und sind drei Stunden spaeter wieder unten in Kashgar.

Etwa um halb neun Uhr morgens sitze ich wieder auf der Terasse bei "John's" und esse ein tuerkisches Brot mit Honig und frischen Joghurt. Am Tisch neben mir sitzt ein, seinem Englisch nach unzweifelhaft aus Schwaben kommender Deutscher mit rasiertem Kopf und einem Schnauzbart. Er sieht aus, als sei er gerade von einem Rave gekommen, obwohl das in Kashgar praktisch ausgeschlossen ist, und trinkt in der Begleitung von John Hu ein Xinjiang-Bier. Offenbar ist er schon laenger in der Stadt, und scheint ein morgendlicher Stammgast bei "John's" zu sein.

Der Bus nach Tashkurgan, einer Stadt kurz vor dem Khunjerab-Pass, ist voll. Somit bleibt uns nur noch die Moeglichkeit, den Bus nach Gilgit in Pakistan zu nehmen, der den Pass ueberquert und am Karakul See haelt, wenn man dem Fahrer rechtzeitig Bescheid sagt. Der Bus soll um elf Fahren, und wir nehmen ein Taxi zur internationalen Busstation. Das VW-Taxi ist ganz neu und wird von einem hochmodernen, umweltfreundlichen Erdgas-Motor angetrieben, und ist daher hellgruen lackiert.

Am Busbahnhof wird klar, dass der Bus nach Pakistan zwar irgendwann fahren wird, jedoch nicht um elf Uhr. Vor dem Bus ist ein unfassbar grosser Gepaeckhaufen aufgestapelt, der zuerst so wirkt wie ein zentraler Lagerpunkt fuer die Fracht des gesamten Busbahnhofes. Jdoch fahren eine Reihe von anderen Bussen, ohne dass der Stapel kleiner wird, stattdessen kommt vorsichtig ein Lastwagen heranrangiert, von dem weitere Kartons uns neuverpackte Autoreifen abgeladen warden, die ebenfalls in, oder auf den Bus sollen. Bis auf zwei Japaner sind alle anderen Passagiere ausser uns pakistanische Haendler. Sie tragen alle diese grauen Kittel, die wie viel zu lange Hemden aussehen, und buschige Schnurrbaerte. Sie lassen sich von dem Gepaeckhaufen, zu dem auch ein gutes Dutzend neuer chinesischer Fahrraeder zaehlt, nicht aus der Ruhe bringen.

Das System funktioniert folgendermassen: weil es fuer den Bus ein Gepaecklimit gibt, muessen die Haendler einen anderen Weg finden, um ihre Fracht auf den Weg zu bringen. Der Ladevorgang wird von einem sehr dicken, chinesischen Uniformierten ueberwacht, der einen hochroten Kopf hat und von den pakistanischen Haendlern gefaltete 50 Yuan-Scheine entgegen nimmt. Immer, wenn das Aufladen ins Stocken geraet, gibt es ein heilloses Durcheinander, am Schluss bekommt der Uniformierte wieder ein paar 50 Yuan-Scheine zugesteckt, und das Verladen geht reibungslos weiter. Dabei wird die Fracht nicht von den Haendlern selbst, sondern von zwei uigurischen Gepaecktraegern aufgeladen, die die Kiste und Fahrraeder mit einem Seil auf das Busdach hieven. Weil dies zu zweit natuerlich viel zu lange dauert, versuchen die pakistanischen Haendler von Zeit zu Zeit selbst Hand anzulegen und das Aufladen zu beschleunigen. Die Gepaeckarbeiter werden jedoch von den Haendlern pro verladenem Gepaeckstueck bezahlt, und wehren sich daher gegen jegliche Einmischungen. Die Haendler, die auf offenbar auf Weisung des Uniformierten auf Fachkraefte, sprich auf die Traeger zurueckgreifen muessen, beschweren sich dann halbherzig und zuenden sich eine neue Zigarette an. Die Traeger, so erklaert uns Chester, bezahlen wiederum den Uniformierten, damit sie auf dem Busbahnhof arbeiten duerfen. Faszinierend – Korruption erscheint aus sich heraus immer logisch und nachvollziehbar. Nach fast genau drei Stunden ist fast alles verladen, und der Bus faehrt los. Er haelt jedoch an dem geschlossenen Tor des Busbahnhofs, fuer das auch nach zehn Minuten niemand einen Schluessel hat. Der Busfahrer ist sichtlich veraergert, und die Haendler richten sich fuer die zweitaegige Reise ein, und setzen ihre Kassettenrekorder mit pakistanischer Popmusik in Betrieb.

Etwas ausserhalb von Kashgar haelt der Bus mit geplatztem Vorderreifen. Der Fahrer hebt den Bus mit einem gefaehrlich aussehenden Wagenheber an, legt sich darunter und beginnt den Reifen zu wechseln. Nach einer weiteren Stunde ist – nach Xinjiang-Zeit – Mirragszeit, und wir halten zum Mittagessen in einem kleinen Dorf mit einem riesigen Melonenmarkt. Die Haendler decken sich mit Saecken voller Melonen ein, die sie im Mittelgang des Busses aufstapeln.

Interessant ist auch die Fracht, die die Haendler verladen haben: neben Fahrraedern und billigen Fernsehern aus chinesischer Produktion kaufen sie in in Kashgar massenhaft gebrauchte Kassenrekorder mit Doppelkassettendeck, die ihrem Aussehen nach aus den Achtziger Jahren stamen und landlaeufig anscheinend als “Boom-Boxes” bekannt sind. Ein Haendler erklaert, dass die Dinger auf dem beruehmten Sonntags-Markt in Kashgar fuer weniger als 60 Yuen, das sind etwa sechs Euro, zu haben sind und drueben in Pakistan mehr als das doppelte bringen. Die Seidenstrasse, die alte Handelsroute, ist alles andere als tot: jedoch werden heute nicht mehr Seide oder die Glasmachertechnik, sondern vor allem gebrauchte “Boom-Boxes” von einem Kulturkreis in den anderen transportiert.

Die Auffahrt in die Fan-Berge, wie die Gebirgskette hier heist, ist abenteuerlich. Hier sind die Berge noch einsamer, unwegsamer, zersplitterter, zerrissener und grossartiger als der Tian Shan Auslaeufer suedlich von Urumqi. Einmal ragt neben der Strasse eine bestimmt 80 Meter hohe Felswand senkrecht auf, an anderen Stellen war die Strasse anscheinend unlaengst von Geroellmassen verschuettet: dies scheint hier jedes Fruehjahr zu passieren. An einem verlorenen Checkpoint werden die Paesse kontrolliert; nach der besonderen Genehmigung fuer den Aufenthalt am Karakul See, die wir uns laut Reisebuero angeblich haetten besorgen muessen, fragt niemand.

Gegen Abend erreichen wir den tiefblauen See, der auf einer windigen Hochebene am Fusse der beiden Siebentausender liegt. Es ist kalt, und ich habe nur einen dicken Wollpullover und keine Jacke dabei. Abseits der Strasse stehen ein paar Jurten und ein niedriges, provisorisches Zementgebaeude, dass die englische Aufschrift “Karakul Resort” traegt. Wir steigen ueber einen Drahtzaun und laufen einem jungen Mann in die Arme, der uns eine grosse, extrabunte Eintrittkarte fuer das “Resort” verkauft. Am Seeufer grasen ein paar Pferde und Kamele. Ausser einer Gruppe russischer Bergsteiger sind wir die einzigen Gaeste.

Die Aussicht ist grandios: die hohen Berge, Gletscher, die baumlose, braune Ebene, beschienen von der tiefstehenden Sonne.

Die Nacht in der Jurte ist sehr kalt, und meine Erkaeltung kommt zurueck. Am naechsten Mittag ist es bewoelkt und regnerisch, fahre ich mit Chester in einem Taxi zurueck. Es kostet nur wenig mehr als der Bus, denn wir bezahlen den Fahrer direkt, waehrend die australische Touristin, die den Wagen gemietet hat, dem Reisebuero etwa das zehnfache ueberlassen hat. Wir versprechen dem Fahrer, ihr nichts zu verraten, und sind drei Stunden spaeter wieder unten in Kashgar.

Kashgar also, die alte Oasenstadt, dessen Name allein Bilder von Ali Baba, Nomaden, reichverzierten Teppichen, verschwitzten britischen Kolonialoffizieren und den Akteuren des "Great Game", dem langen diplomatischen Ringen zwischen Russland und Grossbritannien ueber die Herrschaft ueber das strategisch wichtige Chinesisch Turkestan heraufbeschwoeren.

Tatsaechlich setzt sich bereits am Busbahnhof der nahoestliche Eindruck fort. Mit einem klapprigen, roten Citroen-Taxi fahre ich zum "Seman-Hotel". Der Fahrer hat eine Holzperlenkette am Rueckspiegel befestigt und spricht Mandarin mit rollendem, tuerkischem Akzent. In Strasse am Busbahnhof reihen sich Laghman-Restaurants aneinander, und vor den meisten haengen Lammhaelften in Glaskaesten oder an einem Gelaender. Kashgar ist, ganz vorab, rein subjektiv und nur vom ersten Eindruck her, einfach grossartig.

Das "Seman" steht auf dem Gelaende des alten russischen Konsulates, und bereits die kuehle, alte und reichverzierte Lobby sieht aus, ich hoffe ich verspreche jetzt nicht zu viel, wie ein nahoestliches Hotel in einem alten James Bond-Film. Bereits am Schalter treffe ich Sarah und Dave wieder, die ich zuvor in Urumqi getroffen hatte.

Auch an Kashgar sind die Bemuehungen der chinesischen Regierung, die Stadt zu "sinofizieren", nicht spurlos voruebergegangen. Aehnlich wie Urumqi bilden zwei grosse Strassen, die auch hier Volks- und Befreiungstrasse heissen, die Hauptachsen der Stadt, und als kuenstliches Stadtzentrum fungiert eine riesige, winkende Mao-Statue, die von Blumenbeeten eingerahmt ist, auf denen durch geschickte Bepflanzung zu lesen steht: "Die Kommunistische Partei lebe 10.000 Jahre !" Nur scheint das hier wirklich ueberhaupt keinen zu interessieren, und das wahre Stadtzentrum Kashgars ist nicht dieser etwas laecherliche, menschenleere Platz, sondern sie sagenhafte alte Stadt oestlich der gelben Id Kah Moschee. Sie besteht aus flachen Holzhaeusern, kleineren Moscheen und ungezaehlten kleinen Geschaeften , die sich zum grossen Teil auf der ungeteerten Strasse selbst befinden.

Schraeg gegen ueber vom "Seman", das an einem grossen runden Platz syeht, befindet sich ein weiteres "John's Cafe", wo sich, dem Namen nach wenig ueberraschend, saemtliche Rucksacktouristen infinden. John Hu ist ein eher wie ein Gebrauchtwagenhaendler wirkender chinesischer Geschaeftsmann mit von Tee braungefaerbten Zaehnen, der neben den Dingen auf der Speisekarte auch Fahrten mit dem Jeep an verschiedenste Ziele anbietet. Fuer eine Fahrt zum Torugart Pass, einem der Grenzuebergaenge nach Kirgisien hoch oben in den Bergen, berechnet er 200 US-Dollar, was sogar ihm zuviel erscheint: "Das ist nur fuer die chinesische Seite, drueben kostet es nochmal extra, nicht gerechnet die Sondererlaubnis. Am besten nehmen Sie den Bus ueber den Irkeshtam Pass nach Osh, das ist billiger." Der Bus nach Osh, einer Stadt im Fergana-Tal im Sueden Kirgisiens, faehrt nur Monatgs, und heute ist Dienstag abend. Reichlich Zeit in Kashgar also, zum Glueck: nach der Fahrt bin ich vollkommen erledigt, und die Erkaeltung, die ich mir in Dunhuang geholt habe, ist immer noch nicht vollstaendig verschwunden. In Kashgar ist es angenehm warm und trocken, nicht zu kalt und nicht zu heiss, hochsommerliches Wetter zum Abends draussen sitzen.

In der schattigen Lobby des "Seman" treffe ich auf zwei Reisende aus Hong Kong: der eine ist ein etwa dreissigjaehriger Franzose, der von Beruf Tontechniker ist und in Hong Kong vor allem Canto-Pop produzieren wollte. Jedoch sei die Branche gerade in der Krise, und jetzt nehme er vor allem Stimmen fuer sprechende Spielzeuge auf. "Genau, dass sind diese Puppen die 'Banzaiiii !!' schreien und solche Sachen. Total langweilig." Jetzt ist er auf der Suche nach neuen Einnahmequellen, und ueberlegt in den Handel mit orientalischen Antiquitaeten einzusteigen, falls sich hier in Xinjiang die passende Ware findet. Der andere Reisende ist Chester, ein junger, unglaublich britisch wirkender Hong Kong-Chinese, der in England zur Schule gegangen ist und in Manchester Werkstoff-Ingenieurswesen studiert hat. Er hat gerade seinen Job in Hong Kong gekuendigt, der ebenfalls mit Spielwaren zu tun hatte, genauer gesagt mit Spielwarengrosshandel. "Das ganz billige Zeug", meint er, "diese SB-Packs fuer Supermaerkte mit buntem Plastikspielzeug, die allerunterste Stufe. Das kriegt man in Guangdong fuer praktisch nichts hergestellt." Guangdong, die Hong Kong umgebende chinesische Provinz, ist nach seinen Worten die "Fabrik der Welt". Die Fabriken die er regelmaessig zur Akquisition und zur Kontrolle aufgesucht hat, sind nichts weiter als ein paar gemietete Zimmer, ein paar Tischen und Stuehle, die innerhalb eines Tages umziehen koennen, und vielen, extrem billigen Arbeitern aus dem chinesischen Inland. Bei Kost und Logis frei, bezahlt die Fabrik 360 Yuan im Monat, das sind etwa 45 Euro. Der Zustrom an Arbeitern ist unbegrenzt: "Die gehen in ihre Doerfer zurueck und haben richtig viel Geld in der Tasche." Viele der Fabriken sind beispielsweise in Dongguan, dem Checkpoint an der Grenze der Sonderwirtschaftszone Shenzhen, die man - offiziell - nur mit Sondergenehmigung betreten darf. Diejenigen die in der Kontrolle haengenbleiben und nicht reinkommen, koennen dafuer gleich in Dongguan anfangen. Shenzhen selbst produziert ein bisschen anspruchsvollere Gueter wie Halbleiter, Verpackungen und DVDs. China ist, kein Zweifel, das kapitalistischste Land der Welt, darin sind wir uns eigentlich alle einig. Wir gehen die Strasse vom Seman runter bis kurz vor einem Platz, der mit aus bunten Baellen bestehenden Lampen geschmueckt ist, die in ihrer Anordnung so aussehen wie riesige Modelle von DNS-Molekuelen. Kurz vor dem Platz befindet sich ein ausgezeichnetes uigurisches Restaurant, vor dem ein grosser Kebap-Grill steht, und essen den besten Laghman, den ich bisher bekommen habe.

Bei einem "Xinjiang-Beer" auf der grossen Zementterasse vor "John's Cafe" treffen wir spaeter eine Amerikanerin aus Tennessee, die jedoch nichts trinkt und eine Bibel mit Ledereinband unter dem Arm hat. Sie wohnt in Shanghai, lernt dort chinesisch und schreibt ein paar Artikel, jedoch alles "auf freier Basis". Auch sie will in den naechsten Tagen an den Karakul-See, der an der Strasse nach Pakistan auf etwa 4000 Metern liegt und von zwei ueber 7000 Meter hohen Bergen flankiert ist. Dave, Sarah, Chester und ich haben uns jedoch dazu entschlossen, nicht eine suendhaft teure Tour mit einem Jeep dorthin zu buchen, sondern mit dem oeffentlichen Bus zu fahren. Wir verabreden und fuer den naechsten Tag um neun Uhr, "Beijing-time", in der Lobby des Seman-Hotels.

Auf dem Weg zum Busbahnhof in Urumqi treffe ich zufaellig die Backpackerin aus Korea wieder, die im selben Vierbettzimmer im "Euro-Asia Hotel" gewohnt hat. Sie kam gegen Mitternacht ins Zimmer, legte sich in voller Kleidung schlafen und ist nun, in unveraenderter Montur, ebenfalls auf dem Weg zum Busbahnhof. "Ah, Kirgisien", sagt sie, "sehr interessant. Aber Usbekistan ist besser, nur das Visum ist ein bisschen problematisch". Sie selber ist vier Monate zuvor, im April, in Marokko losgefahren und vor ein paar Tagen von Pakistan ueber den Karakorum Highway, der Hochgebirgsstrasse von Islamabad nach Xinjiang gekommen. Auf die Frage, ob es dort, vor allem wegen der Naehe zu Kaschmir, nicht gefaehrlich gewesen sei, weil zumindest das britische Foreign Office und das Auswaertige Amt vor dem Befahren der Strasse abraten, antwortet sie, Pakistan sei ganz wunderbar, und die pakistanische Seite des Karakorum Highways sei wesentlich eindrucksvoller als die chinesische. "Aber der Irak war wirklich interessant", meint sie. "Nein, man bekommt keinen Passstempel, sondern da sind nur diese netten amerikanischen Soldaten an der Grenze, die sich kurz den Pass anschauen". Aber ob es, immerhin nur eine Woche nach Ende der Kampfhandlungen, trotz Begleitung eines in Amman wohnenden japanischen Journalisten, in Bagdad nicht doch ein bisschen unsicher gewesen sei? "Oh, Bagdad, das war ganz wunderbar. Das war eigentlich total friedlich, und die amerikanischen Soldaten waren sehr, sehr freundlich." Nun war sie auf dem Weg in eine Oase irgendwo in der Taklamakan-Wueste.

Am Busbahnhof treffe ich auch den durchgeknallten Deutschen aus Dunhuang wieder, der, immer noch dasselbe blaue T-shirt tragend, auf einen Bus nach Korla wartet. Gestern war ich ihm bereits in der Innenstadt von Urumqi begegnet, wo er mir, mit veraergertem Gesichtausdruck vor sich hinmurmelnd, auf der Strasse entgegenkam.

Der "Sleeper-Bus" nach Kashgar ist entgegen der Aussagen der Mitarbeiterin in der Schalterhalle nicht wirklich neu, sondern schon ziemlich in die Jahre gekommen. Das trifft insbesondere auf die Liege selbst und noch mehr auf die zur Verfuegung gestellte Decke und das Kopfkissen zu. Dafuer ist der Bus spottbillig, meine Kleidung kann ich ja in Kashgar waschen, und zudem sind alle Passagiere, ausser einer jungen Chinesin und mir, uigurische Xinjianger. Die Leute sind freundlich, und es herrscht eine unaufgeregte, herzliche Athmosphaere, so aehnlich wie man sie sich in einem orientalischen Teehaus vorstellt. Das hier hat mit China in der Tat nur noch wenig zu tun.

Hinter Urumqi zieht sich die Strasse nach Kashgar durch die Auslaeufer der Tian Shan-Berge, die ueber weite Teile die Grenze Chinas zur ehemaligen Sowjetunion markieren. DIe Berge wirken, ganz anders als die Alpen, wild, unbewohnt und zerrissen: das roetliche Gestein besteht aus vielen duennen Schichten, die hoch aus dem Boden aufragen und zum Teil spektakulaer abbrechen. Der Fels scheint nicht hart zu sein, sondern viellmehr leicht zu zersplittern, und die Abhaenge sind voll von Schutt und dunklen Gesteinssplittern. An manchen Stellen scheinen die Berge ueberhaupt nicht aus massivem Fels, sondern aus zusammengebackenen Gesteinstruemmern zu bestehen. Die Strasse windet sich waghalsig an einem Flusslauf entlang. Manche der Steinschichten sind leuchtend rot, manche Schwarz, und die Berge haben damit bunte Streifen. Alle diejenigen, die als Kind oder Zivildienstleistende in den Genuss des paedagogisch wertvollen Buches "Jim Knopf" von Michael Ende gekommen sind, werden sich unweigerlich an das "Gestreifte Gebirge" erinnert fuehlen. Wenn man es sich genau ueberlegt, dann spielt das Buch ja auch in China, das "Gestreifte Gebirge" liegt einige Tagesreisen von der Hauptstadt entfernt, und alles in allem gibt es keinen Zweifel: Michi Ende muss in Xinjiang gewesen sein! Wilhelm Wassmus, Marco Polo, Michael Ende, Djingis Khan -

Nach der Durchquerung der Tian Shan Berge haelt der Bus in Korla, einer alten Stadt an dem Zweig der Seidenstrasse noedlich der Seidenstrasse. Heute ist Korla jedoch, dank des chinesischen Staedtebaus, von viel zu breiten, leeren Strassen durchzogen, die den Ort verlassen und trostlos erscheinen lassen. Es gibt Laghman, das uigurische Nationalgericht, das aus Nudeln und scharf gewuerztem Gemuese besteht. Obwohl fast alle meiner Mitreisenden nur uigurisch sprechen, koennen wir uns dennoch bruchstueckhaft unterhalten, zum Beispiel darueber, dass die meisten aus Kashgar kommen. Der aeltere Mann auf der Schlafliege neben mir ist auch "Kashgari", und so wie er es sagt, klingt ein gewisser Sti\olz auf die Stadt mit.

Der Bus haelt noch ein weiteres mal gegen zehn Uhr abends fuer ein Abend-Laghman und Tee, an einem kleinen Restaurant neben einer riesigen, futuristischen chinesischen Tankstelle. Auch am naechsten Morgen gibt es Laghman und Tee, in der Ferne sind schneebedeckte Berge zu sehen, und gegen fuenf Uhr nachmittags ereichen wir die Aussenbezirke Kashgars. Nach dreissig Stunden in einem heissen Bus und nach fast 1500 Kilometern auf ungeteerten Strassen durch Wueste und Gebirge wird erahnbar, was fuer Reisende frueherer Zeiten eine Oase wirklich bedeutet haben muss. Das hier ist natuerlich ein Kinderspiel gegen den eine wochenlange Reise auf Kamelen, aber alle sind froh, als wir endlich am Busbahnhof ankommen, endlich.

Am Bahnhof in Urumqi sind mit einem Mal alle Schilder zweisprachig in chinesischer und arabischer Schrift: die Schrift gibt die uigurische Sprache wieder, die viele in der Autonomen Provinz Xinjiang sprechen, deren Hauptstadt Urumqi oder "Wulumuhtschie", wie die Chinesen sagen, ist. Laut Reisefuehrer ist die Hauptattraktion Urumqis die Tatsache, die am weitesten vom Meer entfernteste Stadt der Welt zu sein. Aehnlich wie zuvor in Lanzhou ueberquere ich den ueberfuellten Bahnhofsplatz und gelange in das "Euro-Asia Hotel", dass eine Art Doppelgaenger des Hotels in Lanzhou ist. Auch das Fruehstueck gleicht sich, wie sich bald darauf herausstellt. Nur der russische Techno ist gluecklicherweise abgeschaltet.

Trotz der allgegenwaertigen arabischen Schrift geht es in Urumqi nicht arabisch, sondern eindeutig tuerkisch zu. Die Sprache hoert sich nach vielen "Oes" und "Ues" und tuerkisch an. Viele Leute tragen die gleichen weissen Kaeppis, die man auch in Berlin-Neukoelln auf der Sonnenallee oder auf dem Markt am Moritzplatz sehen kann, und es wird ueberall ofenfrisches Fladenbrot verkauft.

Urumqi ist jedoch keine uigurische, sondern eine chinesische, oder besser, eine grundlegend "sinofizierte" Stadt, eine Art chinesisches Implantat im Herzen der uigurischen autonomen Provinz. Ueber achtzig Prozent der Einwohner sind Chinesen, die Polizei und alle wichtigen Posten sind von Chinesen besetzt. Seit Jahrzehnten betreibt die chinesiche Regierung, aehnlich wie in Tibet, eine gezielte Siedlungspolitik, die die Uiguren mittlerweile zu einer Minderheit im eigenen Land hat werden lassen. Nur die Busfahrer sind, so scheint es, uigurisch. Offenbar lassen sie, zumindest im Bus ins Zentrum und in dem zurueck zum Bahnhof, Uiguren kostenlos mitfahren, was jedesmal ein bisschen subversiv und wie eine politische Tat wirkt. Aber vielleicht ist das auch nur Zufall.

Die Innenstadt ist nach gewohnt chinesischem Muster durchgeplant und besteht aus den ueblichen Strassen "Strasse des Volkes", "Strasse der Befreiung" (Jiefang Lu) und "Strasse der Roten Fahne". Insgesamt wirkt jedoch, wie ebenfalls gewohnt, nichts sozialistisch, sondern alles ist ein kruder Mix aus "Giordano"-Bekleidungslaeden (einer weiteren Kette aus Hong Kong), Kentucky Fried Chicken und Restaurants. Es ist micht haesslich in Urumqi, aber es gibt schlicht nichts besonders aufregendes zu sehen.

Die chinesische Besiedlungspolitik ist scheinbar auch fuer den etwas eigenartigen Umstand, dass in Urumqi offiziell die Pekinger Zeit gilt und es damit, gemessen an der extrem westlichen Lage Urumqis, es bei Sonnenaufgang im Sommer bereits acht Uhr und alles eigentlich zwei Stunden zu frueh ist. Die Chinesen benutzen anscheinend unbeirrt Pekinger Zeit, so zumindest das Maedchen bei Kentucky Fried Chicken, deren Freund knallblaue Kontaktlinsen traegt. Vor allem Uiguren benutzen dagegen die inoffizielle "Xinjiang-Time", welche die Sache um zwei Stunden korrigiert. Daher muss man jedesmal bei Uhrzeiten nachfragen, ob jetzt von "Xinjiang" oder "Beijing" die Rede ist; die Folge des zweigleisigen Zeitsystems ist ein merkwuerdiges Gefuehl von Zeitlosigkeit, so aehnlich wie auf Langstreckenfluegen ueber mehrere Zeitzonen.

Am Ende der Jiefang Lu steht ein gewaltiges, klassizistisches Gebaeude, das sich bei naehere, Hinsehen jedoch als brandneu erweist. Es gehoert der "Bank of China (Filiale Xinjiang) und enthaelt eine reichverzierte Schalterhalle, die stark an das alte, von Opiumgeldern finanzierte Gebaeude der "Hong Kong and Shanghai Bank (HSBC)" am Bund im Shanghai erinnert. In Urumqi steht jedoch in der Schalterhalle eine fuenf Meter hohe Lenin-Statue aus Bronze, die der Praesident der Bank, so der Inschrift auf dem Sockel zufolge, vor zwei Jahren "durch Zufall auf einem Second-Hand-Waren-Markt" entdeckt hat. Als ich das Ding fotografieren will, weist mich der Waerter am Eingang auf das Fotografierverbot hin. Er sitzt hinter einem Schreibtisch und spielt mit einem zappelnden Krebs, den er in einer alten, oben abgeschnittenen Mineralwasserflasche aufbewahrt.

Weil die Ticket-Mafia am Bahnhof alle Fahrkarten nach Kashgar fuer den naechsten Tag bereits auhgekauft hat und ich vorerst nur schlechte Kontakte zum ebenfalls von ihr gesteuerten Schwarzmarkt habe, bleibe ich einen Tag laenger in Urumqi. Weil die Stadt zwar nicht haesslich, es im Grunde aber nichts zu sehen gibt, gehe ich in den "Volkspark", der eine Art Vergnuegungspark ist. Als besonderes Ereignis findet im Volkspark gerade eine aufwaendige und informative Ausstellung ueber der Laender der Welt statt. Auf kleinen am Wegesrand aufgebauten Tafeln sind die einzelnen Laender kurz dargestellt, wobei auch so entlegene Staates wie Nauru und Liechtenstein nicht fehlen. Die gebotene Information besteht aus der Beschreibung der Staatsflagge (die ueber der Tafel haengt), dem offiziellen Staatsnamen, dem Namen der Hauptstadt, Flaeche und Einwohnerzahl, und dem Datum, an dem der betreffende Staat die Volksrepublik China diplomatisch anerkannt hat. Dazu ist jeweils ein Foto beigefuegt, dass im Falle Frankreichs den Eiffelturm und fuer England den Trafalgar Square zeigt, jedoch auf der Tafel ueber Russland das World Trade Center und auf der Tafel ueber Polen die Bank of China in Hong Kong zeigt. Auf der deutschen Tafel ist ein tropischer Wasserfall zu sehen.

Nachdem ich abends noch einmal ohne Erfolg versuche, in der von mafiosen Ticketaufkaeufern bevoelkerten und unglaublich zwielichtigen Bahnhofshalle eine Fahrkarte nach Kashgar zu kaufen, und auch ein von einem Hotelgast aus Peking empfohlener Schwarzhaendler kein Ticket auftreiben kann, beschliesse ich, die dreissigstuendige Reise am naechsten Tag mit dem "Sleeper-Bus", einem Bus mit Schlafliegen, anzutreten. Manchmal laesst einem die Mafia keine andere Wahl, moegen sie in der Hoelle schmoren, oder meinetwegen auch in Qinghai.

Das Fazha-Hotel in Lanzhou bietet ein billiges chinesisches Fruehstuecksbuffet an, das vor allem aus Kohl, Bohnen und Chili besteht. Dazu laeuft auch hier lauter russischer Techno, anscheinend eine Spezialitaet in Lanzhou. Der Zug nach Liuyuan, der Dunhuang am naechsten gelegenen Station, faehrt morgens um 9:30.

Tim, der junge englische Journalist, faehrt ebenfalls nach Dunhuang, und die von unseren chinesischen Mitreisenden gern gezollte Aufmerksamkeit verteilt sich also auf zwei, was ganz angenehm ist. Anders als im Zug von Chengdu sind die Leute ein bisschen weltoffener und brechen nicht sofort in hysterisches Lachen und laute "Ting Bu Dong !!!" (= versteht nicht!!) Rufe aus, wenn man sie nicht versteht. Stattdessen stellt sich schnell heraus, das alle im Zug 1860 Muenchen-Fans sind, was natuerlich an dem neuen Loewen-Spieler Shao Jiayi aus Peking liegt. Die Loewen (yiqian babei liushi munihe) haben jetzt circa 1,2 Milliarden Fans und damit die Bayern vermutlich ueberholt. Wurde auch Zeit. Draussen wird die Gegend einstweilen immer einsamer und staubiger und geht bei Sonnenuntergang schliesslich in eine Wueste ueber.

Liuyuan ist, vor allem um Mitternacht, ein truebes und gottverlassenes Nest, das seine Existenz vemutlich nur der Bahnlinie Peking-Urumqi und seiner Naehe zu Dunhuang verdankt. Dunhang selbst ist eine 130 Kilometer entfernte, inmitten der Wueste gelegene Oase. An der trueben Bahnstation in Liuyuan warten daher alle Taxifahrer der Gegend auf Passagiere nach Dunhuang, und die "Sozialistische Marktwirtschaft mit Chinesischen Eigenheiten", wie sie offiziell ja heisst, zeigt sich bei unserem Verlassen des Bahnofsgebaeudes wieder von ihrer eindrucksvollen und tumultartigen Seite. Nach den gaengigen Vorstellungen unter chinesischen Taxifahrern transportieren Auslaender in ihren Rucksaecken nicht Schmutzwaesche und zerlesene Exemplare von "The Beach", sondern buendelweise druckfrische 100 Dollar-Scheine. Dank zweier Maedchen aus Dunhuang, mit denen wir ein Santana-Taxi teilen, bekommen wir aber schliesslich den Preis, der laut den Leuten im Zug annehmbar ist. Der Fahrer traegt eine wohldesignte Brille und wirkt, was sich durch seine vernuenftige Fahrweise noch verstaerkt, wie ein Intellektueller. Warum Intellektuelle ausgerechnet in Dunhuang Taxi fahren sollten, bleibt jedoch unklar, ausserdem ist es mittlerweile fast zwei Uhr morgens. Die Strasse ist von Sand gesaeumt, und in Dunhuang sind bereits alle ins Bett gegangen. Wir finden schliesslich ein etwas grottiges Hotel an der Hauptstrasse, die, wie sollte es anders sein, Volksstrasse (Renmin Lu) heisst. Im Grunde sind alle chinesischen Staedte gleich.

Bei "John G's Cafe" gegenueber gibt laut der vage ins Englische uebersetzten Speisekarte ein englisches Fruehstueck, das in erstaunlichem Masse einem englischen Fruehstueck aehnelt, ganz hervorragend ist und eine willkommene Abwechslung nach Chili und Bohnen darstellt.

Bei Tageslicht praesentiert sich Dunhuang als ein durch und durch auf Tourismus eingestellter Ort. Die weitaus meisten Touristen sind jedoch nicht Auslaender, sondern Chinesen aus anderen Teilen Chinas, die alle goldene, chargierende, offene Polohemden aus glaenzendem Kunststoff tragen, dazu blaue Anzughosen und einen Guertel, an dem eine Plastik-Krokoledertasche fuer das Mobiltelefon und ein moeglichst grosses Schluesselbund befestigt sind. Das ganze erinnert unweigerlich an die schrillen modischen Vorstellungen der Besatzung des Raumschiffes "Enterprise" in den ersten Folgen von "Star Trek". Chinesische Herrenmode ist, bei aller gebotenen interkulturellen Toleranz, eine der groessten geschmacklichen Entgleisungen, die man sich ueberhaupt vorstellen kann: das KANN man, rein objektiv betrachtet, nicht schoen finden, vollkommen ausgeschlossen. Selbst die schlimmsten Unfaelle im brandenburgischen Hinterland kommen da nicht annaehernd heran. Gluecklicherweise gibt es bereits erste Anzeichen zumindest einer kuenstlersichen Aufarbeitung des Ganzen: in der "Red Gate Gallery" in Peking wurde um die Weihnachtszeit eine Ausstellung mit dem Namen "Happy Peasants" gezeigt, in der ein chinesischer Kuenstler lebensgrosse Puppen entsprechend eingekleidet hatte.

Mein Mitreisender Tim und ich leihen uns bei John G ein paar Fahraeder und fahren ueber eine fuenfspurige, noch nicht fuer Autos geoeffnete Strasse zu Dunhuangs Hauptattraktion, dem von hohen Sandduenen umgebenen "Halbmondsee". Am Rande des kleinen Sees, der entgegen dem englischen Text auf der riesigen Eintrittkarte jedoch nicht "brilliantly stunning tourqoise clear" ist, befindet sich ein schoener alter hoelzerner Tempel, vor dem ein paar Sonnenschirme und Kuehltruhen aufgebaut sind. Es ist frueher Nachmittag, sehr heiss und daher fast leer. Wir trinken Tee und unterhalten uns ueber China und wie das wohl alles weitergehen wird mit dem bevoelkerungsreichsten Land der Welt.

Gegen fuenf Uhr machen wir uns daran, die hoechste Duene, etwa zwei Kilometer entfernt, hinaufzusteigen. Wir ueberqueren eine erste, kleinere Duene, von der man mit einem Bambusschlitten hinunterfahren kann, und gehen dann in Richtung des Sandgipfels. Es ist gar nicht so einfach, im Sand zu gehen ohne einzusinken. Trotz der immensen Hitze hat das ganze grosse Aehnlichkeit mit Skifahren im Hochgebirge, jenseits der Baumgrenze: eine Welt fast ohne Geraeusche, in der der Blick von fast keinen Einzelheiten von den Formen abgelenkt wird; nur ein paar vereinzelte, fussballgrosse Buesche wachsen im Sand. Eine Mondlandschaft. Es sind keinerlei Fusspuren zu sehen, der Grat hinauf zum Gipfel ist wie die Kante eines Lineals. Vom Gipfelgrat zeigt sich, dass die Duenen, die hoechsten etwa zweihundert Meter hoch, sich scheinbar endlos in die Wueste hinein ziehen. Eine atemberaubend schoene, lebensfeindliche Landschaft. Es gibt unter Reisenden ausgemachte "Wuestenfans", die von Wuesten nicht genug bekommen koennen; zu ihnen werde ich vermutlich nie gehoeren. Die Sonne geht gegen halb neun unter, und der Sand wird schlagartig kalt.

Bei "John G'a" treffen wir gegen zehn einen etwa fuenfzigjaehrigen, eindeutig verrueckt wirkenden Deutschen und einen gleichaltrigen baertigen Australier, der uns zu einem Bier einlaedt, unablaessig ueber sich selbst monologisiert und dazu ununterbrochen billige chinesische Zigaretten raucht. Seinem Vernehmen nach war er schon wirklich ueberall und an den obskursten Orten. Als die beiden gegangen sind, laedt uns ein chinesisches Fernsehteam vom staatlichen Sportfernsehen "CCTV 5", das auf Urlaubsreise ist, an ihren Nebentisch ein, und nach soviel Hitze, Sand und soviel Monologen ist ihre Gesellschaft und Herzlichkeit genau das richtige fuer das Ende des anstregenden Tages.

Am naechsten Tag schlaegt die Gesundheit zurueck, und nach den anstrengenden letzten Tagen in Hong Kong und dem schnellen Reisen und dem Tag auf der Duene erwischt mich eine Art Grippe. Am uebernaechsten Tag ist es ein bisschen besser, und ich nehme schliesslich den Abendzug nach Urumqi, obwohl ich nicht weiss, ob es nicht besser waere, noch einen Tag in Dunhuang zu bleiben und richtig gesunf zu werden; aber ich bilde mir ein, dass ich nicht genuegend Zeit habe. Es faellt mir schwer, die Zeit und die Entfernung bis nach Europa einzuschaetzen; und noch habe ich noch immer nicht ganz realisiert, jetzt wirklich unterwegs zu sein.

Im Zug nach Urumqi treffe ich die nettesten Zugmitreisenden bisher, was mich nachtraeglich in meinem Beschluss bestaerkt. Am naechsten Morgen mit einem fiebrig durchgeschwitzten Hemd auf, kurz bevor der Zug gegen sieben in Urumqi ankommt.

 

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