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Etwa um halb neun Uhr morgens sitze ich wieder auf der Terasse bei "John's" und esse ein tuerkisches Brot mit Honig und frischen Joghurt. Am Tisch neben mir sitzt ein, seinem Englisch nach unzweifelhaft aus Schwaben kommender Deutscher mit rasiertem Kopf und einem Schnauzbart. Er sieht aus, als sei er gerade von einem Rave gekommen, obwohl das in Kashgar praktisch ausgeschlossen ist, und trinkt in der Begleitung von John Hu ein Xinjiang-Bier. Offenbar ist er schon laenger in der Stadt, und scheint ein morgendlicher Stammgast bei "John's" zu sein.

Der Bus nach Tashkurgan, einer Stadt kurz vor dem Khunjerab-Pass, ist voll. Somit bleibt uns nur noch die Moeglichkeit, den Bus nach Gilgit in Pakistan zu nehmen, der den Pass ueberquert und am Karakul See haelt, wenn man dem Fahrer rechtzeitig Bescheid sagt. Der Bus soll um elf Fahren, und wir nehmen ein Taxi zur internationalen Busstation. Das VW-Taxi ist ganz neu und wird von einem hochmodernen, umweltfreundlichen Erdgas-Motor angetrieben, und ist daher hellgruen lackiert.

Am Busbahnhof wird klar, dass der Bus nach Pakistan zwar irgendwann fahren wird, jedoch nicht um elf Uhr. Vor dem Bus ist ein unfassbar grosser Gepaeckhaufen aufgestapelt, der zuerst so wirkt wie ein zentraler Lagerpunkt fuer die Fracht des gesamten Busbahnhofes. Jdoch fahren eine Reihe von anderen Bussen, ohne dass der Stapel kleiner wird, stattdessen kommt vorsichtig ein Lastwagen heranrangiert, von dem weitere Kartons uns neuverpackte Autoreifen abgeladen warden, die ebenfalls in, oder auf den Bus sollen. Bis auf zwei Japaner sind alle anderen Passagiere ausser uns pakistanische Haendler. Sie tragen alle diese grauen Kittel, die wie viel zu lange Hemden aussehen, und buschige Schnurrbaerte. Sie lassen sich von dem Gepaeckhaufen, zu dem auch ein gutes Dutzend neuer chinesischer Fahrraeder zaehlt, nicht aus der Ruhe bringen.

Das System funktioniert folgendermassen: weil es fuer den Bus ein Gepaecklimit gibt, muessen die Haendler einen anderen Weg finden, um ihre Fracht auf den Weg zu bringen. Der Ladevorgang wird von einem sehr dicken, chinesischen Uniformierten ueberwacht, der einen hochroten Kopf hat und von den pakistanischen Haendlern gefaltete 50 Yuan-Scheine entgegen nimmt. Immer, wenn das Aufladen ins Stocken geraet, gibt es ein heilloses Durcheinander, am Schluss bekommt der Uniformierte wieder ein paar 50 Yuan-Scheine zugesteckt, und das Verladen geht reibungslos weiter. Dabei wird die Fracht nicht von den Haendlern selbst, sondern von zwei uigurischen Gepaecktraegern aufgeladen, die die Kiste und Fahrraeder mit einem Seil auf das Busdach hieven. Weil dies zu zweit natuerlich viel zu lange dauert, versuchen die pakistanischen Haendler von Zeit zu Zeit selbst Hand anzulegen und das Aufladen zu beschleunigen. Die Gepaeckarbeiter werden jedoch von den Haendlern pro verladenem Gepaeckstueck bezahlt, und wehren sich daher gegen jegliche Einmischungen. Die Haendler, die auf offenbar auf Weisung des Uniformierten auf Fachkraefte, sprich auf die Traeger zurueckgreifen muessen, beschweren sich dann halbherzig und zuenden sich eine neue Zigarette an. Die Traeger, so erklaert uns Chester, bezahlen wiederum den Uniformierten, damit sie auf dem Busbahnhof arbeiten duerfen. Faszinierend – Korruption erscheint aus sich heraus immer logisch und nachvollziehbar. Nach fast genau drei Stunden ist fast alles verladen, und der Bus faehrt los. Er haelt jedoch an dem geschlossenen Tor des Busbahnhofs, fuer das auch nach zehn Minuten niemand einen Schluessel hat. Der Busfahrer ist sichtlich veraergert, und die Haendler richten sich fuer die zweitaegige Reise ein, und setzen ihre Kassettenrekorder mit pakistanischer Popmusik in Betrieb.

Etwas ausserhalb von Kashgar haelt der Bus mit geplatztem Vorderreifen. Der Fahrer hebt den Bus mit einem gefaehrlich aussehenden Wagenheber an, legt sich darunter und beginnt den Reifen zu wechseln. Nach einer weiteren Stunde ist – nach Xinjiang-Zeit – Mirragszeit, und wir halten zum Mittagessen in einem kleinen Dorf mit einem riesigen Melonenmarkt. Die Haendler decken sich mit Saecken voller Melonen ein, die sie im Mittelgang des Busses aufstapeln.

Interessant ist auch die Fracht, die die Haendler verladen haben: neben Fahrraedern und billigen Fernsehern aus chinesischer Produktion kaufen sie in in Kashgar massenhaft gebrauchte Kassenrekorder mit Doppelkassettendeck, die ihrem Aussehen nach aus den Achtziger Jahren stamen und landlaeufig anscheinend als “Boom-Boxes” bekannt sind. Ein Haendler erklaert, dass die Dinger auf dem beruehmten Sonntags-Markt in Kashgar fuer weniger als 60 Yuen, das sind etwa sechs Euro, zu haben sind und drueben in Pakistan mehr als das doppelte bringen. Die Seidenstrasse, die alte Handelsroute, ist alles andere als tot: jedoch werden heute nicht mehr Seide oder die Glasmachertechnik, sondern vor allem gebrauchte “Boom-Boxes” von einem Kulturkreis in den anderen transportiert.

Die Auffahrt in die Fan-Berge, wie die Gebirgskette hier heist, ist abenteuerlich. Hier sind die Berge noch einsamer, unwegsamer, zersplitterter, zerrissener und grossartiger als der Tian Shan Auslaeufer suedlich von Urumqi. Einmal ragt neben der Strasse eine bestimmt 80 Meter hohe Felswand senkrecht auf, an anderen Stellen war die Strasse anscheinend unlaengst von Geroellmassen verschuettet: dies scheint hier jedes Fruehjahr zu passieren. An einem verlorenen Checkpoint werden die Paesse kontrolliert; nach der besonderen Genehmigung fuer den Aufenthalt am Karakul See, die wir uns laut Reisebuero angeblich haetten besorgen muessen, fragt niemand.

Gegen Abend erreichen wir den tiefblauen See, der auf einer windigen Hochebene am Fusse der beiden Siebentausender liegt. Es ist kalt, und ich habe nur einen dicken Wollpullover und keine Jacke dabei. Abseits der Strasse stehen ein paar Jurten und ein niedriges, provisorisches Zementgebaeude, dass die englische Aufschrift “Karakul Resort” traegt. Wir steigen ueber einen Drahtzaun und laufen einem jungen Mann in die Arme, der uns eine grosse, extrabunte Eintrittkarte fuer das “Resort” verkauft. Am Seeufer grasen ein paar Pferde und Kamele. Ausser einer Gruppe russischer Bergsteiger sind wir die einzigen Gaeste.

Die Aussicht ist grandios: die hohen Berge, Gletscher, die baumlose, braune Ebene, beschienen von der tiefstehenden Sonne.

Die Nacht in der Jurte ist sehr kalt, und meine Erkaeltung kommt zurueck. Am naechsten Mittag ist es bewoelkt und regnerisch, fahre ich mit Chester in einem Taxi zurueck. Es kostet nur wenig mehr als der Bus, denn wir bezahlen den Fahrer direkt, waehrend die australische Touristin, die den Wagen gemietet hat, dem Reisebuero etwa das zehnfache ueberlassen hat. Wir versprechen dem Fahrer, ihr nichts zu verraten, und sind drei Stunden spaeter wieder unten in Kashgar.
 

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