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Am Bahnhof in Urumqi sind mit einem Mal alle Schilder zweisprachig in chinesischer und arabischer Schrift: die Schrift gibt die uigurische Sprache wieder, die viele in der Autonomen Provinz Xinjiang sprechen, deren Hauptstadt Urumqi oder "Wulumuhtschie", wie die Chinesen sagen, ist. Laut Reisefuehrer ist die Hauptattraktion Urumqis die Tatsache, die am weitesten vom Meer entfernteste Stadt der Welt zu sein. Aehnlich wie zuvor in Lanzhou ueberquere ich den ueberfuellten Bahnhofsplatz und gelange in das "Euro-Asia Hotel", dass eine Art Doppelgaenger des Hotels in Lanzhou ist. Auch das Fruehstueck gleicht sich, wie sich bald darauf herausstellt. Nur der russische Techno ist gluecklicherweise abgeschaltet.

Trotz der allgegenwaertigen arabischen Schrift geht es in Urumqi nicht arabisch, sondern eindeutig tuerkisch zu. Die Sprache hoert sich nach vielen "Oes" und "Ues" und tuerkisch an. Viele Leute tragen die gleichen weissen Kaeppis, die man auch in Berlin-Neukoelln auf der Sonnenallee oder auf dem Markt am Moritzplatz sehen kann, und es wird ueberall ofenfrisches Fladenbrot verkauft.

Urumqi ist jedoch keine uigurische, sondern eine chinesische, oder besser, eine grundlegend "sinofizierte" Stadt, eine Art chinesisches Implantat im Herzen der uigurischen autonomen Provinz. Ueber achtzig Prozent der Einwohner sind Chinesen, die Polizei und alle wichtigen Posten sind von Chinesen besetzt. Seit Jahrzehnten betreibt die chinesiche Regierung, aehnlich wie in Tibet, eine gezielte Siedlungspolitik, die die Uiguren mittlerweile zu einer Minderheit im eigenen Land hat werden lassen. Nur die Busfahrer sind, so scheint es, uigurisch. Offenbar lassen sie, zumindest im Bus ins Zentrum und in dem zurueck zum Bahnhof, Uiguren kostenlos mitfahren, was jedesmal ein bisschen subversiv und wie eine politische Tat wirkt. Aber vielleicht ist das auch nur Zufall.

Die Innenstadt ist nach gewohnt chinesischem Muster durchgeplant und besteht aus den ueblichen Strassen "Strasse des Volkes", "Strasse der Befreiung" (Jiefang Lu) und "Strasse der Roten Fahne". Insgesamt wirkt jedoch, wie ebenfalls gewohnt, nichts sozialistisch, sondern alles ist ein kruder Mix aus "Giordano"-Bekleidungslaeden (einer weiteren Kette aus Hong Kong), Kentucky Fried Chicken und Restaurants. Es ist micht haesslich in Urumqi, aber es gibt schlicht nichts besonders aufregendes zu sehen.

Die chinesische Besiedlungspolitik ist scheinbar auch fuer den etwas eigenartigen Umstand, dass in Urumqi offiziell die Pekinger Zeit gilt und es damit, gemessen an der extrem westlichen Lage Urumqis, es bei Sonnenaufgang im Sommer bereits acht Uhr und alles eigentlich zwei Stunden zu frueh ist. Die Chinesen benutzen anscheinend unbeirrt Pekinger Zeit, so zumindest das Maedchen bei Kentucky Fried Chicken, deren Freund knallblaue Kontaktlinsen traegt. Vor allem Uiguren benutzen dagegen die inoffizielle "Xinjiang-Time", welche die Sache um zwei Stunden korrigiert. Daher muss man jedesmal bei Uhrzeiten nachfragen, ob jetzt von "Xinjiang" oder "Beijing" die Rede ist; die Folge des zweigleisigen Zeitsystems ist ein merkwuerdiges Gefuehl von Zeitlosigkeit, so aehnlich wie auf Langstreckenfluegen ueber mehrere Zeitzonen.

Am Ende der Jiefang Lu steht ein gewaltiges, klassizistisches Gebaeude, das sich bei naehere, Hinsehen jedoch als brandneu erweist. Es gehoert der "Bank of China (Filiale Xinjiang) und enthaelt eine reichverzierte Schalterhalle, die stark an das alte, von Opiumgeldern finanzierte Gebaeude der "Hong Kong and Shanghai Bank (HSBC)" am Bund im Shanghai erinnert. In Urumqi steht jedoch in der Schalterhalle eine fuenf Meter hohe Lenin-Statue aus Bronze, die der Praesident der Bank, so der Inschrift auf dem Sockel zufolge, vor zwei Jahren "durch Zufall auf einem Second-Hand-Waren-Markt" entdeckt hat. Als ich das Ding fotografieren will, weist mich der Waerter am Eingang auf das Fotografierverbot hin. Er sitzt hinter einem Schreibtisch und spielt mit einem zappelnden Krebs, den er in einer alten, oben abgeschnittenen Mineralwasserflasche aufbewahrt.

Weil die Ticket-Mafia am Bahnhof alle Fahrkarten nach Kashgar fuer den naechsten Tag bereits auhgekauft hat und ich vorerst nur schlechte Kontakte zum ebenfalls von ihr gesteuerten Schwarzmarkt habe, bleibe ich einen Tag laenger in Urumqi. Weil die Stadt zwar nicht haesslich, es im Grunde aber nichts zu sehen gibt, gehe ich in den "Volkspark", der eine Art Vergnuegungspark ist. Als besonderes Ereignis findet im Volkspark gerade eine aufwaendige und informative Ausstellung ueber der Laender der Welt statt. Auf kleinen am Wegesrand aufgebauten Tafeln sind die einzelnen Laender kurz dargestellt, wobei auch so entlegene Staates wie Nauru und Liechtenstein nicht fehlen. Die gebotene Information besteht aus der Beschreibung der Staatsflagge (die ueber der Tafel haengt), dem offiziellen Staatsnamen, dem Namen der Hauptstadt, Flaeche und Einwohnerzahl, und dem Datum, an dem der betreffende Staat die Volksrepublik China diplomatisch anerkannt hat. Dazu ist jeweils ein Foto beigefuegt, dass im Falle Frankreichs den Eiffelturm und fuer England den Trafalgar Square zeigt, jedoch auf der Tafel ueber Russland das World Trade Center und auf der Tafel ueber Polen die Bank of China in Hong Kong zeigt. Auf der deutschen Tafel ist ein tropischer Wasserfall zu sehen.

Nachdem ich abends noch einmal ohne Erfolg versuche, in der von mafiosen Ticketaufkaeufern bevoelkerten und unglaublich zwielichtigen Bahnhofshalle eine Fahrkarte nach Kashgar zu kaufen, und auch ein von einem Hotelgast aus Peking empfohlener Schwarzhaendler kein Ticket auftreiben kann, beschliesse ich, die dreissigstuendige Reise am naechsten Tag mit dem "Sleeper-Bus", einem Bus mit Schlafliegen, anzutreten. Manchmal laesst einem die Mafia keine andere Wahl, moegen sie in der Hoelle schmoren, oder meinetwegen auch in Qinghai.
 

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