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Am naechsten Tag, ein Samstag, gehe ich morgens wieder mit meinen Freunden aus Bischkek im See schwimmen. Das Wasser des Issyk Kul ist volkommen klar, und die Sonne scheint fast ungetruebt auf den sandigen Grund des Sees hinunter. Auf dem See gibt es keinerlei Verkehr, kein Schiff, kein Segelboot, nicht einmal ein Ruderkahn ist zu sehen. Dadurch wirkt der See auf urtuemliche Weise unberuehrt.

Mein Plan ist des, den See einmal ganz zu umrunden und am Montag abend wieder in Bischkek zu sein. Am Dienstag morgen habe ich einen Termin bei der uneffektivsten Botschaft der Welt, der usbekischen Botschaft. Gegen Mittag verabschiede ich mich von allen und mache mich auf zur Strasse, um ein Auto oder einen Bus nach Karakol am Ostende des Sees zu finden. Tamchi ist auch tagueber verschlafen, ausser mir steht nur ein junges Maedchen an der Strassse, das gerauecherten und getrockneten Fisch vekauft. Hinter Tamchi, nach Norden hin, ragt die schneebedeckte Bergkette auf, die seit wenigen Jahren die Grenze zum neuentstandenen Staat Kasachstan bildet. Alles ist so ruhig und plastisch, so idyllisch und uebersichtlich, dass die Zeit auch hier stillzustehen scheint. Von hier aus, hier an der Landstrasse von Balykchy nach Karakol, kann man unmoeglich darauf schliessen, dass wir das Jahr 2003 schreiben. Selbst die gelegentlich vorbeifahrenden Autos, die als eine der wenigen Gegenstaende eine Zeitbestimmung zulassen, sind alt.

Das erste mal seit laengerer Zeit bin ich wieder allein, und ploetzlich habe ich dieses Gefuehl, dem in "On the Road" ein ganzes Buch gewidmet ist: einfach die Freiheit zu haben, irgendwo hin zu fahren, und zu wissen, das dies, irgendwie, auch klappen wird - bloss dass ich nicht in den dreissiger Jahren auf einer amerikanischen Landstrasse unterwegs bin, sondern mitten in Kirgisien, irgendwo im hintersten Winkel der Welt, in einem kleinen, staubigen Nest mit Holzhaeusern und buntgestrichenen Fensterrahmen.

Nach etwa einer halben Stunde haelt ein alter, rundlicher Bus, der tatsaechlich so auch in "On the Road" vorkommen koennte. Der Bus ist bestimmt vierzig Jahre alt und nur halbvoll. VOr mir sitzt ein Betrunkener, der gelblichen Fusel aus einer angestossenen Glasflasche trinkt und beharrlich den Umstand ignoriert, dass ich kein Russisch verstehe. Nach einer weiteren halben Stunde schlaeft er schliesslich ein.

Der Bus macht eine Pause in Cholpon Ata, einem alten Heilbad und zu sowjetischen Zeiten sehr beliebten Kurort. Jetzt, wo die Grenzen zwischen den neuen Staaten immer undurchlaessiger werden und ueberall das Geld fehlt, bleiben die meisten Gaeste weg. Der Ort hat seine besten Tage laengst hinter sich und erscheint traurig und verlassen. Hinter Cholpon Ata ist das Nordufer wieder lieblich, mit einer losen Folge kleiner, russischer Doerfer und Birken.

Die Nacht verbringe ich in Karakol in einem Gasthaus, in dem vor allem auslaendische Alpinisten und Backpacker wohnen, sowie die etwas ueberfordert wirkenden Mitglieder eines Amateur-Photografen-Clubs aus Potsdam. Ein weiterer Gast in ein junger Anthropologe aus den Niederlanden, der vor einigen Jahren monatelang hier in Karakol gewohnt hat und die Leute in dem Laden, in dem wir uns abends "Baltika"-Bier kaufen, noch beim Namen kennt. Er wohnt jetzt, nach Jahren in Aserbaidschan und Georgien, in Bischkek und macht jetzt eine Studie ueber den Einfluss von Religion im unabhaengigen kirgisischen Staat: Missionare aus aller Welt haben Zentralasien als ihr neues Missionsgebiet entdeckt, und allein in Kirgisien gibt es etwa 1500 christliche Missionare, vor allem aus Korea und den Vereinigeten Staaten.

Karakol selbst ist ein alter russischer Aussenposten am Suedrand der alten Sowjetunion. Oestlich von Karakol liegt das gewaltige Massiv des Tianshan, hinter dem China beginnt. Hier gibt es keine Passtrassen hinueber, sondern nur Pfade, die auf ueber 4000 Meter hinaufreichen.

Am naechsten Morgen nehme ich einen Bus in Richtung Balykchy am Westende des Sees, der in Kadschi Say haelt. Choro hatte Kadschi Say als einen der weitaus reizvollsten Orte des Suedufers beschrieben, und allgemein wurde in Bischkek das Suedufer fuer interessanter und reizvoller gehalten als das Nordufer des Issyk Kul. Der Bus ist noch aelter und runder als der Bus am Vortag, und ueber dem Fahrersitz sind Girlanden, Plastikblumen und eine tirolerisch aussehende Zierverkleidung aus Holz angebracht. Noch in Karakol versucht der Fahrer an verschiedenen Orten Benzin und Motoroel aufzutreiben. Das Motoroel wird von einem Maedchen verkauft, die an einer Strassenkreuzung hinter einem oelverschmierten Holztisch sitzt. Auf dem Tisch stehen Einmachglaeser, die mit fast schwarzem, dicken Oel gefuellt sind.

Der Bus schaukelt durch verschiedene Orte am Suedufer, und allmaehlich wird die Uferlandschaft immer trockener und einsamer. Die Erde nimmt eine roetliche Faerbung an, die Vegetation wird spaerlich und besteht vor allem aus savannenartigen, stacheligen Bueschen. Nach etwa vier Stunden haelt der Bus schliesslich in einer Ansammlung von flachen Hauesern, die vor dem Hintergrund einer tiefroten, zerkluefteten Huegelkette stehen: das sind die "Red Canyons", von denen Choro mit in Bischkek erzaehlt hatte. Dahinter ragt wieder das schneebedeckte Gebirge auf. Ich steige aus und der Bus fahert davon, und ich stehe mitten in diesem verlassenen Ort, Kadschi Say.

An der Hauptstrasse ist eine kleine Baeckerei, die eigentlich nur aus einer Holzbude und einem Lehmofen davor besteht. Dort treffe ich Agbar und seine zwei Breuder. Agbar spricht etwas englisch, kommt aus Osh und ist Usbeke. Ich kaufe ein frisches Fladenbrot, und die Brueder laden mich zu Tee und dem schon altbekannten "Osh" ein. Sie arbeiten die Sommermonate hier in Kadschi Say, aber jetzt, Mitte September, sei die Saison schon vorbei, und die meisten Gaeste sind abgereist. Agbar hilft mir, die Adresse von Nurschan in der "Uliza Garaschna" zu finden. Nurschan ist eine relativ junge Frau, die mit ihrem Mann und ihren Kindern ein sehr einfaches Holzhaus fast direkt an der Strasse bewohnt. Ich kann auf einer Couch im Wohnzimmer uebernachten.

Kadschi Say hat etwaz zutiefst unwirkliches an sich. Ich versuche herauszufinden warum, vielleicht ist es die Assoziation zu Patagonien, die Einsamkeit, die Einfachheit und Aermlichkeit der Haeuser, die majestaetischen, aber abweisenden Berge. Hier ist alles noch spaerlicher als in Tamchi. Es gibt nichts ausser ein paar Holzhaeusern, ein paar windschiefen Zaeunen, zwei Laeden, ein verfallenes, sowjetisch-futuristisches Bushaeuschen. Die Laeden verkaufen eigentlich nur Brot und Wodka. Diese wenigen Objekte im Ort lassen ihn fast so reduziert wie eine Theaterkulisse erscheinen. Selbst die Farben wirken auf seltsame Weise spaerlich und verblasst. Die wenigen Leute auf der Strasse sind entweder schweigsame Kirgisen mit hohen Fellmuetzen, oder seltsame, ebenso schweigsame Russen. Ein schiefer Steg fuehrt auf das Wasser hinaus. Ich mache Photos, in Farbe und in Schwarzweiss, und komme mir unfassbar fremd hier vor. Der Strand liegt fast verlassen, nur ein paar Kinder baden. Anders als am Nordufer gibt es hier einen Sandstrand und Wellengang, fast so wie an einer Meereskueste.

Abends esse ich eine Art Suppe im "Cafe Altai". Auch dieses ist im Inneren fast leer, ein paar Holztische, Brotkoerbe aus blassblauem Plastik und eine Tafel, auf der mit kyrillischen Buchstaben "europaeische und kirgisische Kueche" geschrieben steht. Ich bin der einzige Gast hier. Ich schaue ueber meine Suppe durch die offene Tuer auf die Strasse hinaus. Einmal faehrt ein alter Lastwagen vorbei, der auf der Seite die Aufschrift "Sester Koelsch" traegt.

Am naechsten Morgen erwache ich auf der Couch in Nurschans Wohnung und schmiede Fluchtplaene. Ich ueberlege fieberhaft, wie ich am schnellsten aus Kadschi Say wieder herauskomme, und erwaege sogar, einfach wieder nach Tamchi zu fahren. Kadschi Say ist fuer mich, alleine hier seiend, einfach zu viel, und ich kann mir nicht vorstellen, was ich hier noch einen Tag lang machen sollte. Gleichzeitig will ich aber vorher noch soviele Photos wie moeglich machen. Es ist keineswegs so, dass der Ort bedrohlich oder gefaehrlich ist, sondern er ist einfach zu fremdartig, zu verlassen, zu einsam und bizarr, als dass ich noch einen Tag bleiben will.

Gegen halb elf haelt ein Minibus nach Bischkek an der Strasse. Ich treffe noch einmal Agbar, der mich in den Bus lotst. Im Bus sind neben weiteren Geaesten auch ein junger deutscher Diplomat und seine Freundin. Mit einem mal loest sich das Gefuehl der Fremdartigkeit auf, so als haette ich eine alte, vetraute Jacke angezogen. Um fuenf Uhr erreichen wir Bischkek.
 

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